Arbeit()los werden – Teil 1

Dies ist der erste von mehreren Teilen zum Thema „Arbeit()los werden“.

Durch diese Glocke geht ein Riss. Die Rede ist nicht von irgendeiner Glocke, sondern von der US-amerikanischen Freiheitsglocke. „Proclaim LIBERTY Throughout all the Land unto all the Inhabitants Thereof!“, prägte man auf die berühmte „liberty bell“, welche am 8. Juli 1776 zum ersten Mal geläutet wurde. Schon bald zog sich ein Riss durch die Glocke und vergrößerte sich. Seit 1846 wurde sie darum nicht mehr geläutet und ist zu einem Museumstück geworden. Zunächst scheint dieser Riss symbolisch für einen Riss in unserem Verständnis von Freiheit. Ich meine allerdings, dass dieser Riss mindestens so viel mit der Welt der Arbeit zu tun hat … aber machen wir zunächst einen Raum- und Zeitsprung!

Die Arbeitslosigkeit der anderen

„Gesellschaftliche Wiedereingliederung nach Reifeprozess wahrscheinlich“, so lautete die Einschätzung eines Beamten des niedersächsischen Innenministeriums Mitte der sechziger Jahre bezüglich der sog. Gammler, junger, (meist) gut ausgebildeter Erwachsener, die an öffentlichen Plätzen herumhingen, augenscheinlich nichts taten und die sich die Zurufe empörter Passanten offenbar zu Herzen genommen und angeeignet hatten: ja, wir sind Gammler!

Eine ähnliche Notiz könnte sich heute auch in der Akte eines arbeitslosen Akademiker finden lassen: „gesellschaftliche Wiedereingliederung in den nächsten 6 Monaten/nach Maßnahme XY wahrscheinlich“. Denn ja, früher wie heute können auch sog. Akademiker*innen (zeitweise, wie man hastig in Klammern anzumerken geneigt ist) arbeitslos werden.

Nicht nur aus Sicht des Staates bzw. der Jobcenter, sondern auch aus Sicht der meisten Menschen gilt zunächst: Arbeitslosigkeit, das ist die Arbeitslosigkeit der anderen – und die Rede von der Wiedereingliederung (ob mit oder ohne Reifeprozess) hat sich bis heute gehalten. Die sog. „Integration in den Arbeitsmarkt“ gehört zu den bemerkenswertesten Sprachregelungen, welche die Bürokratie jemals hervorgebracht hat.

Die meisten Menschen, die arbeitslos geworden sind, wünschen sich auch eine solche Wiedereingliederung, denn Arbeitslosigkeit wird heute, nicht anders als früher, als etwas wenig Erstrebenswertes, wenn nicht um jeden Preis zu Vermeidendes angesehen. Gerade seit den Hartz-IV-Reformen ist diese Angst vor Arbeitslosigkeit noch einmal gestiegen.

Die vielen Gesprächen, die ich mit Freunden, Bekannten, Geschwistern und Eltern über die Arbeitslosigkeit geführt habe, hinterließen bei mir oft diesen Eindruck: arbeitslos werden, das klingt für viele nach einem Albtraum. Und dann erst arbeitslos sein – ein Horrorszenario. Meine eigene Erfahrung hat mir gezeigt, ich bin eigentlich nicht arbeitslos, vielmehr kann ich von einem dauerhaften Arbeitslos-Werden sprechen. Seit über 24 Monaten werde ich also arbeitslos und bin es doch noch nicht geworden. Und ich habe die merkwürdige Ahnung, dass dieser Prozess auch nicht so schnell abgeschlossen sein wird.

Arbeitslos werden, das heißt zu nicht unbeträchtlichem Anteil: mit den Ängsten und Sorgen im eigenen Umfeld konfrontiert werden. Die eigene Arbeitslosigkeit ist mitnichten eine empathische Einbahnstraße. Als Arbeitsloser darf man wenigstens genau so viel Empathie für die Co-Arbeitslosigkeit des eigenen Umfelds aufbringen wie dieses einem entgegenbringt. Was ich mache oder lasse, ist von direkter gefühlter Relevanz für diejenigen, die mir nahe stehen. Darum sind Menschen schon dann von „Arbeitslosigkeit“ betroffen, wenn ein ihnen naher Mensch „arbeitslos geworden“ ist. Mit anderen Worten: Als Arbeitsloser muss man sich mit den Sorgen des eigenen Umfelds beschäftigen. Wie kommt das?

„Sie ist arbeitslos geworden.“ – „Er ist arbeitslos geworden.“ Solche Sätze jagen vielen Menschen einen Schauer über den Rücken, ja, es scheint, als reagierten wir darauf nicht nur mental, sondern auch körperlich. Für manche ist die Arbeitslosigkeit eines ihnen nahestehenden Menschen tatsächlich eine enorme psychische Belastung. Googelt man die drei Wörter „enorme psychische Belastung“, bekommt man eine erste Ahnung, in welchem Maße uns die Arbeitslosigkeit eines nahen anderen belastet. An dieser Stelle ist vielleicht eine Trigger-Warnung notwendig: die drei Wörter „enorme psychische Belastung“ googeln, kann ihnen einen Schock bereiten; denn eine „enorme psychische Belastung“ assoziieren wir mit u. a. mit körperlicher und/oder psychischer Erkrankung, Gefängnis, Gewalterfahrungen und Tod. Arbeitslos werden heißt, mit den existentiellen Ängste der anderen konfrontiert zu werden.

Eine der größten Herausforderungen beim Arbeitslos-Werden besteht insofern darin, sich nicht mit diesen Ängsten gemein zu machen oder diese gar zu internalisieren. Den wenigsten gelingt dies, ohne Schäden davon zu tragen. Dabei lockt jenseits dieses Spiegelkabinetts die Möglichkeit, sich selbst besser kennenzulernen. Vielleicht müssten wir über den Jobcentern und Arbeitsagenturen heute also die antike Grußformel schreiben, die die Besucher des delphischen Orakels begrüßte: Gnṓthi sautón „Erkenne dich selbst!“

Begeben wir uns also in diese delphischen Tiefen und fragen: Von welcher Beschaffenheit ist diese sog. Arbeitslosigkeit in meiner eigenen Wahrnehmungs- und Erfahrungswelt? Dabei will ich mich zunächst ganz abendländisch annähern: mit Hilfe der Kategorien von Raum und Zeit.

Chrono-logische Annäherung:

Die Wahrnehmung und Erfahrung der Zeit verändert sich in paradoxer Weise, wenn Menschen arbeitslos werden. Zunächst tritt eine gefühlte Verlangsamung der Zeit ein. Die Tage werden wieder ein bisschen unendlich, Kindheitserinnerungen mögen aufsteigen. Dennoch haben Arbeitslose ganz andere Sorgen als Kinder – und mit dieser Sorge- bleibt auch eine Zeitstruktur erhalten. Gerade in der Arbeitslosigkeit besteht die (nicht ungefährliche) Möglichkeit, dass sich diese Sorgestruktur derart ausbreitet, dass sie wirklich die ganze Zeiterfahrung des Arbeitslosen prägt. Gleichwohl bietet die Arbeitslosigkeit aber auch die (seltener ergriffene) Chance, mit der Zeit etwas Neues oder etwas anderes anzufangen und sich nicht an die Zeitstruktur der Arbeitstätigkeit zu halten. Je nach Einstellung kann sich so der Eindruck entwickeln, aus der Zeit zu fallen oder in einen Zeitkäfig eingesperrt zu werden.

Das ganze Spektrum möglicher Zeitwahrnehmung ist in der Arbeitslosigkeit also erlebbar und zumindest in Ansätzen haben die meisten Arbeitslosen diese unterschiedlichen Zeitlichkeiten auch kennengelernt: Von der alltäglichen Zeiterfahrung mit ihren Phasen der gelegentlichen Langeweile bis hin zu einer Exzessivität der Zeit, mit der wir nur selten konfrontiert sind; vom bloßen Totschlagen der überschüssigen Zeit  bis hin zur Flowerfahrung, einer neuen Intensität des Zeiterlebens, die nicht notwendig mit einer Tätigkeit verbunden sein muss.

Womit die Arbeitslosigkeit den Menschen also konfrontiert, das ist die Sinnlichkeit der Zeit. In der Arbeitslosigkeit kann sich unser Sinn für die Zeitlichkeit schärfen; dieser Sinn kann aber auch weiter abstumpfen. Zur Sinnlichkeit der Zeit gehört auch die Erinnerung. Gerade in ihr nehmen wir die Zeit noch gedrängter als das wahr, was Sinn stiften soll – oder eben nicht gestiftet hat. Während der einzelne Moment sich mehr oder minder erfüllend anfühlen mag, bietet uns die Erinnerung ein zweites Maß dafür, was wir mit unserer Zeit anzufangen wussten. Arbeitslosigkeit kann uns mit existentiellen Fragen bedrängen: Wie soll ich meine Zeit nutzen? Habe ich meine Zeit genutzt? Ist meine Zeit überhaupt zu etwas nützlich? Sie kann auch den Blick auf die Zeiterfahrung der Arbeitenden verändern: Was machen die anderen eigentlich mit ihrer Zeit? Wofür finden sie keine Zeit? Finde ich dafür Zeit? Nehme ich mir Zeit dafür, auch wenn ich sie habe?

Gerade diese existentielle Dimension der Arbeitslosigkeit ist es, die in der öffentlichen Debatte kaum beachtet wird. Sprechen wir über Arbeitslosigkeit, dann sprechen wir über Armut, über Arbeit, über Bildung und Integration, über Maßnahmen und Sanktionen, aber wir sprechen nicht über die existentielle Erfahrung, die mit Arbeitslosigkeit einhergehen kann. Ich hoffe, ich konnte ein wenig plausibel machen, dass diese Erfahrung auch Erfahrung der Zeit ist.

Das war der erste Teil meines Beitrags „Arbeit()los werden“. Du hast hoffentlich etwas Neues darüber gelernt, wie Arbeitslosigkeit Menschen auch indirekt betreffen kann und wie sich die Zeitwahrnehmung der Arbeitslosen direkt verändern kann. Im zweiten Teil wirst du mehr darüber erfahren, wie sich die Raumwahrnehmung der Arbeitslosen verändern kann, und im dritten Teil, was die Veränderung von Raum- und Zeitwahrnehmung eigentlich mit dem Riss in der Freiheitsglocke zu tun hat …

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Literatur

„Als die Polizei „Gammler“ jagte“, http://www.spiegel.de/einestages/berlin-in-den-1960ern-als-die-polizei-gammler-an-der-gedaechtniskirche-jagte-a-1196555.html (abgerufen am 28.03.2018)

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