Arbeit()los werden – Teil 2

Im ersten Teil dieses Beitrags hast du erfahren, wie Arbeitslosigkeit Menschen auch indirekt betreffen kann und wie sich die Zeitwahrnehmung der Arbeitslosen direkt verändern kann. Im zweiten Teil will ich nun auf Veränderungen in der Raumwahrnehmung und den allgemeinen Status der Arbeitslosigkeit als eine Art und Weise der (Fehl- oder Nicht-)platzierung eingehen.

Arbeitslosigkeit und psychedelische Raumerfahrung

Die Veränderung unserer zeitlichen Wahrnehmung impliziert („immer schon“) eine Veränderung der räumlichen Wahrnehmung: Veränderte Zeitwahrnehmung beschreiben wir oft als Stauchungs- und Streckungsphänomene. Schon in der langsamer oder schneller verrinnenden Zeit also liegt eine andere Raumqualität. Ein bisschen mag es wie bei Alice im Wunderland sein: Arbeitslosigkeit, das ist nicht nur eine Pille, sondern ein ganzer Pillencocktail. Manche Räume werden infolge dessen größer, manche kleiner, manche Räume verzerren sich, andere Räume bekommen eigentlich jetzt erst Struktur und Charakter. Das liegt daran, dass wir mehr Zeit haben, die Räume wahrzunehmen; aber auch daran, dass sich unsere Aufmerksamkeit einfach verschiebt. Welche Veränderungen in der Raumwahrnehmung eintreten, ist natürlich sehr stark vom eigenen Lebenswandel abhängig.

Mir ist bspw. aufgefallen, dass sich die Wahrnehmung öffentlicher Räume, gerade tagsüber, wenn die meisten Menschen auf der Arbeit sind, verändert. Beinahe tägliche Spaziergänge in der Nähe meiner Wohnung haben dazu geführt, dass ich diese wie ein erweitertes Zuhause erlebe. Kleine Veränderungen bemerke ich etwa schneller als früher. Andere Räume können einem (noch) fremder werden: In Berlin kann man sich etwa, umgeben von Touristen, an Orten, die man vor allem als Tourist besucht,  ein wenig touristisch fühlen, aber auch fremd gegenüber dem Touristischen. Denn ich bin ja nicht auf Urlaub.

Neben der veränderten Raumwahrnehmung gibt es natürlich auch neue Räume, darunter das Jobcenter. Ihre bürokratische Kargheit, ihre kafkaeske Struktur aus Gängen, Fenstern und Türen kennt man auch aus anderen öffentlichen Gebäuden. Die Stimmung der Warteräume aber, die Gesprächsfetzen, die man dort aufschnappen kann, und die Plakate an der Wand, die den Imperativ der Arbeit von allen Seiten verkünden, tragen zur Besonderheit der Jobcenter bei. Die Qualität dieser Räume wird stark durch die Blicke geprägt, die man dort zufällig aufschnappen kann. Viele Menschen in den Jobcentern blicken vor sich hin, ins Leere, und meiden den Blickkontakt zu anderen. Diese Abgeschlossenheit unter formal Gleichgesinnten lässt sich zum Teil wohl damit erklären, dass viele Menschen sich im Jobcenter am falschen Ort fühlen und ein Teil von ihnen darum gar nicht anwesend ist.

Insofern werden die Räume der Jobcenter zu Orten der Abwesenheit. Diese Abwesenheit scheint die dort Angestellten anzustecken. Manche begegnen dieser Abwesenheit mit einer aufgesetzt wirkenden, fast Kindergarten-artigen Freundlichkeit, manche haben sich einen neopreußischen Panzer umgelegt, andere wirken derart apathisch, als wären sie nicht Angestellte, sondern Kunden im Jobcenter. Diese ersten Andeutungen beruhen noch auf meinen bisherigen Erinnerungen, Eindrücken und gefühlten Wahrheiten. Es dürfte spannend sein, diese Eindrücke mit einer genaueren Beobachtung noch einmal zu überprüfen.

Topologische Annäherung

Man kann den Raumbegriff enger oder weiter verstehen. In seinem Aufsatz „Andere Räume“ hat Michel Foucault sich mit einer Typologie des Raumes im weiteren Sinne beschäftigt. Der viel zitierte Text lässt sich auch für ein topologisches Verständnis der Arbeitslosigkeit heranziehen:

„Vielleicht ist unser Leben noch von Entgegensetzungen geleitet, an die man nicht rühren kann, an die sich die Institutionen und die Praktiken noch nicht herangewagt haben. Entgegensetzungen, die wir als Gegebenheiten akzeptieren: z.B. zwischen dem privaten Raum und dem öffentlichen Raum, zwischen dem Raum der Familie und dem gesellschaftlichen Raum, zwischen dem kulturellen Raum und dem nützlichen Raum, zwischen dem Raum der Freizeit und dem Raum der Arbeit. Alle diese Gegensätze leben noch von einer stummen Sakralisierung. Das – unermeßliche – Werk von Bachelard, die Beschreibungen der Phänomenologen haben uns gelehrt, daß wir nicht in einem homogenen und leeren Raum leben, sondern in einem Raum, der mit Qualitäten aufgeladen ist, der vielleicht auch von Phantasmen bevölkert ist.“ (Foucault, S. 37)

Was Foucault hier allgemein festgestellt hat, trifft in besonderer Weise auf die Arbeitslosigkeit zu. Mit ihr verschärft sich die Wahrnehmung der Entgegensetzungen der Räume. Der Raum selbst tritt uns als ein vielfach gespaltener Raum gegenüber. Die unsichtbaren Schranken, die magischen Tore, die symbolischen Grenzen werden greifbarer. Gerade die Jobcenter zeigen phantasmatische Eigenschaften, wie das Verhalten der sich darin Bewegenden vermuten lässt. Und die allgemeine Veränderung der Räumlichkeit hat, wie gesagt, etwas Psychedelisches. So bewegt man sich als Arbeitsloser mitunter häufiger in Räumen der Freizeit, hat aber nicht unbedingt Zugang zu diesen Räumen oder entdeckt plötzlich, wie unattraktiv der Raum der Freizeit sein kann, wenn die Zeit wirklich frei ist. So mag etwa ein Raum der Freizeit sich bei genauerer Betrachtung als Raum der Arbeit entpuppen – und umgekehrt!

Foucaults Interesse bezieht sich bei aller Heterogenität der Räume vor allem auf jene „Platzierungen, (…) die sonderbare Eigenschaften haben, sich auf alle anderen Platzierungen zu beziehen, aber so, daß sie die von diesen bezeichneten oder reflektierten Verhältnisse suspendieren, neutralisieren oder umkehren“ (Foucault, S. 38). Könnte die Arbeitlosigkeit so eine Platzierung sein? Anders gefragt: Worin und wie wird ein Mensch platziert, der arbeitslos geworden ist? Wie platziert der Mensch sich selbst in der Arbeitslosigkeit?

Arbeitslosigkeit als Utopie, Dystopie und Heterotopie

Es kann hierauf wohl keine allgemeine Antwort geben. Vielleicht spreche im Folgenden also nur für mich. Foucault (S. 38f.) unterscheidet Utopien („Platzierungen ohne wirklichen Ort“, die als „Perfektionierung (…) oder Kehrseite der Gesellschaft“ erscheinen), Heterotopien („tatsächlich realisierte Utopien, in denen die wirklichen Plätze innerhalb der Kultur gleichzeitig repräsentiert, bestritten und gewendet sind“) und Mischformen dieser zwei Typen von Platzierung (hier nennt Focuault den Spiegel). Lässt sich die Arbeitslosigkeit in diese Typologie einordnen? Meines Erachtens wäre die Arbeitslosigkeit zu den Mischformen zu zählen, man könnte sie als einen Spiegel zu umschreiben versuchen, von dem aus „ich mich als abwesend (…) sehe“. Bewerbungen schreiben, Gespräche mit Jobcenter-Angestellten führen; das sind Tätigkeiten, in denen man sich als abwesend von der Welt der Arbeit erleben kann. Wie ich bereits angedeutet habe, zeigt sich diese Abwesenheit in den Räumen und im Verhalten der Menschen in diesen Räumen.

Was also sind die utopischen, was sind die heterotopischen Charakteristika der Arbeitslosigkeit? „Hartz IV; und der Tag gehört dir“, das ist vielleicht Hinweis auf die Utopie der Arbeitslosigkeit. Hier überschneidet sich die Arbeitslosigkeit mit der Idee des Grundeinkommens. Gleichwohl kippt die Arbeitslosigkeit die Utopie gleich mehrfach ins Dystopische: Viele Menschen wollen arbeiten und brauchen mehr Geld als sie haben. Und das Grundeinkommen, das sie erhalten, ist nicht bedingungslos. Nicht nur insofern hat die Arbeitslosigkeit einen dystopischen Charakter: Arbeitslos sein, das heißt dann, an einem unerwünschten Ort platziert zu sein.

Unter den Heterotopien, die Foucault aufzählt, scheint die Arbeitslosigkeit am meisten mit den Altersheimen, „die an der Grenze zwischen der Krisenheterotopie und der Abweichungsheterotopie liegen“ (Foucault, S. 40f.), gemeinsam zu haben. Wie für die Altersheime kann man auch für die Arbeitslosigkeit sagen: die Arbeitslosigkeit „ist eine Krise, aber auch eine Abweichung, da in unserer Gesellschaft, wo die Freiheit die Regel ist, der Müßiggang eine Art Abweichung ist“ (ebd.). Grundsätzlich teilt die Arbeitslosigkeit mit den Heterotopien, dass sie (1) im Laufe der Zeit ihre Funktionalität ändern können (etwa durch die Hartz-IV-Reformen), wie es Foucault für den Friedhof gezeigt hat, dass sie (2) zusammengesetzte, gar widersprüchliche Platzierungen sind (wie die Gärten), dass sie (3) ihr „volles Funktionieren“ erst erreichen, „wenn die Menschen mit ihrer herkömmlichen Zeit brechen“ (S. 43), und dass sie (4) illusionäre Orte sind: „man glaubt einzutreten und ist damit ausgeschlossen“ (S. 44).

Welche Funktion könnte schließlich die Arbeitslosigkeit gegenüber den Räumen erfüllen, denen sie gegenübergestellt ist? Folgen wir Foucault, so ist die Arbeitslosigkeit als Heterotopie nicht nur der Welt der Arbeit, sondern auch der Welt der Freizeit gegenübergestellt. Auch wenn bspw. öffentliche Räume wie das Museum für Arbeitslose leicht oder gar umsonst zu betreten sind, kann man sich als Arbeitsloser in einem Museum merkwürdig fehl am Platz fühlen. Mag dieses Gefühl der Fehlplatzierheit auch keinen großen Raum einnehmen, so ist es doch subtil präsent.

Welche Funktion erfüllt die Arbeitslosigkeit also für die Welt der Arbeit und der Freizeit? Hat sie eine illusionäre Funktion, indem sie „den gesamten Realraum, alle Platzierungen, in die das menschliche Leben eingesperrt ist, als noch illusorischer denunziert“ (S. 45)? Oder erfüllt sie auf verdrehte Weise gar eine kompensierende Funktion, indem sie als „vollkommen anderer Ort“ (S. 45) fungiert? Ich halte es für plausibel, die Arbeitslosigkeit auch hier als besondere Mischform zu verstehen. Jenseits von Arbeit und Freizeit ist die Arbeitslosigkeit eine Illusion der Freizeit, dient aber auch als Kompensation der (fehlenden) Arbeit – und zugleich fällt die Arbeitslosigkeit auch aus dieser Typologie wieder heraus, weil auch Arbeitslosigkeit Arbeit ist und weil auch in der Arbeitslosigkeit eine Unterscheidung von Arbeit und Freizeit existieren kann.

Diese erste Annäherung an die Arbeitslosigkeit als räumliches Phänomen, als Art und Weise sich zu platzieren und platziert zu werden, macht vor allem deutlich, wie viele offene Fragen wir als Gesellschaft noch an die Arbeitslosigkeit haben. Sie erscheint uns als Utopie, als Dystopie, als Heterotopie, als Paradox und als Spiegel. Auf die eine oder andere Weise sind alle Arbeitslosen in einen Raum der spukhaften An- und Abwesenheit, der Verwiesen- und Fehlplatziertheit ein- und ausgesperrt. Wir sollten nicht vergessen, dass die Arbeitslosen in Deutschland ihre Ortsabwesenheit formal beantragen müssen. Der merkwürdige topologische Charakter der Arbeitslosigkeit hat in der Gesetzgebung also einen Widerhall gefunden. Was man vielleicht nur als Gängelung der Arbeitslosen oder als notwendige Kontrolle der freigestellten Subjekte ansehen mag, verweist mE ungewollt auf die Schwierigkeit, die wir als Gesellschaft haben, die Arbeitslosen zu verorten. In Analogie zu den Untoten könnte man die Arbeitslosen als die Unverorteten bezeichnen. Gerade der hier angestellte Versuch, sie zu verorten, macht dies deutlich.

Im zweiten Teil meines Beitrags „Arbeit()los werden“ habe ich mich mit der veränderten Raumwahrnehmung beschäftigt und an einer topologischen Annäherung mit Hilfe Foucaults versucht. Im dritten Teil werden wir nun die Zeit- und Raumcharakteristik der Arbeitslosigkeit zusammen betrachten.

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Literatur

Foucault, Michel: Andere Räume (1967), in: Barck, Karlheinz (Hg.): Aisthesis: Wahrnehmung heute oder Perspektiven einer anderen Ästhetik; Essais. 5., durchgesehene Auflage. Leipzig: Reclam, 1993

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