Im ersten Teil dieses Beitrags habe ich mich mit der veränderten Zeitwahrnehmung, im zweiten Teil mit der veränderten Raumwahrnehmung als Arbeitsloser beschäftigt. Im dritten Teil will ich nun die beiden Stränge zusammen- und weiterführen.
Die Arbeitslosen von Marienthal
In den letzten beiden Beiträgen habe ich versucht, einen Einblick in mögliche Veränderungen der zeitlichen und räumlichen Wahrnehmung bei Arbeitslosen gemacht. Auch die berühmte Studie „Die Arbeitslosen von Marienthal“ aus den 30er-Jahren hat sich damit zumindest in der Außenperspektive beschäftigt. Da in dieser Studie die Arbeitslosen aber vor allem als Untersuchungsobjekte herhalten mussten, erfahren wir nur wenig über ihre Wahrnehmung und sehr viel über die Wahrnehmung der Forschenden: „Losgelöst von ihrer Arbeit und ohne Kontakt mit der Außenwelt, haben die Arbeiter die materiellen und moralischen Möglichkeiten eingebüßt, die Zeit zu verwenden. Sie, die sich nicht mehr beeilen müssen, beginnen auch nichts mehr und gleiten allmählich ab aus einer geregelten Existenz ins Ungebundene und Leere. Wenn sie Rückschau halten über einen Abschnitt dieser freien Zeit, dann will ihnen nichts einfallen, was der Mühe wäre, erzählt zu werden.“ (Jahoda et. al., S. 83) Zu den Beobachtungsdaten der Forscher*innen zählen die Gehgeschwindigkeit im Ort und die Häufigkeit, mit der die Menschen während des Spaziergangs stehen bleiben.
Vor allem den Männern sei die Zeitstruktur abhanden gekommen, „denn was zwischen den Orientierungspunkten Aufstehen – Essen – Schlafengehen liegt, die Pausen, das Nichtstun ist selbst für den Beobachter, sicher für den Arbeitslosen schwer beschreibbar.“ (ebd., S. 85) Obgleich die Forschenden sog. Zeitverwendungsbogen ausfüllen ließen und sich auch eingehend mit den Arbeitslosen unterhielten, scheinen sie wenig Zugang zu deren Wahrnehmung von Zeit und Raum selbst bekommen zu haben. Nur einzelne Einträge in den Bögen lassen erahnen, dass die Arbeitslosen ihren eigenen Kopf hatten. So notiert ein 33jähriger Arbeitsloser: „16-17 [Uhr] beim Baumfällen im Park zugeschaut, schade um den Park“ (S. 84). Hier deutet sich im Kleinen an, dass die Raum- und Zeitwahrnehmung sich verändert haben könnte und dass es zu einer veränderten Einschätzung gekommen ist. Das Verschwinden eines öffentlichen Raumes (des Parks) wird bedauert. Die Forschenden gehen auf diese offene Mitteilung des Arbeitslosen gar nicht ein, sie analysieren hier nur die angeblich ungenutzte Zeit.
Wenn die Forschergruppe sich dem Raum zuwendet, dann nur nebenbei und oftmals mit wertender Tendenz. So notiert der gleiche Arbeitlose: „15-16 [Uhr] zum [Kaufmann] Treer gegangen“. Die Forschenden bemerken, der Kaufmann sei „3 Minuten vom Wohnort dieses Arbeiters entfernt“ und „der Weg vom Park nach Hause (…) ist 300 Schritte lang“ (S. 84f.). Die Forscher*innen fragen hier nur: „Was ist also in der fehlenden Zeit geschehen?“ Erstaunlicherweise bleibt die Frage offen, nicht einmal der Versuch einer Antwort wird gegeben: „Der Arbeitlose ist einfach nicht mehr imstande, über alles, war er im Laufe des Tages getan hat, Rechenschaft zu geben.“ (S. 85) Die Grenzen der Forschungsmethode markieren hier scheinbar die Grenzen der Arbeitslosen-Welt. Obgleich sich die Forscher*innen der Scham- und Schuldgefühle der Arbeitslosen bewusst sind, kommen sie nicht auf den Gedanken, dass deren Angaben einer Art von Selbstzensur unterliegen könnten. Schon das Konzept des Zeiterfassungsbogens erinnert ja an ein Arbeitsprotokoll. Wie sollte mit einem Erfassungsinstrument aus der Arbeitswelt aber das Besondere der Arbeitlosigkeit erfasst werden können, fragt man sich. Welche Eindrücke hatten die Arbeitlosen? Welche Gespräche führten sie? Wie nahmen sie die freie Zeit wahr? Wenig bis nichts erfahren wir in der berühmten Marienthaler Studie, die bis heute als einflussreichste Studie zur Arbeitslosigkeit gewertet wird.
Aus heutiger Sicht ähnelt die Beschreibung dieser (vorgeführten) Parade-Arbeitslosen frappierend der Beschreibung von Burn-Out-Patient*innen. Wie den Arbeitslosen von Marienthal ihre Langsamkeit und Untätigkeit offenbar gar nicht mehr auffiel, so liest man heute immer wieder, dass Menschen „mit Burn-Out“ sich ständig gestresst fühlen, aber objektiv nicht produktiver, sondern weniger produktiv sind als ihre weniger gestressten Mitarbeiter*innen. Wir lernen also: Wie den Arbeitslosen, so wird auch den Ausgebrannten die ihnen eigentümliche Wahrnehmung von Zeit und Raum abgesprochen, sie wird entwertet oder vollkommen ignoriert. Die Sprache der Pathologie bringt die phänomenologische Betrachtung hinter Schloss und Riegel.
Der Riss in der Glocke
Gegen diese ideologische Einbuchtung von Arbeitslosen und Arbeitskranken habe ich eine erste, denkbar vorläufige phänomenologische Betrachtung gestellt. Ich habe (mich) gefragt: Wie fühlt sich das eigentlich an, wie nimmt sich das eigentlich wahr?
Bislang nehmen wir die Arbeitslosigkeit – zumindest in der sog. öffentlichen Debatte – gar nicht wahr. So verkennen wir viele Phänomene, die der Arbeitslosigkeit eigen sind. Wir haben bloß eine Idee davon. Ich meine, es ist darum notwendig, sich schon begrifflich davon zu verabschieden, die Arbeitslosigkeit ausschließlich von der Arbeit her zu denken. Eine kleine linguistische Verschiebung könnte bereits Abhilfe schaffen. Wenn wir von der Arbeitslosigkeit sprechen, so liegt der semantische Fokus auf dem Verlust der Arbeit. Das Genitiv-s der Arbeitslosigkeit macht dies subtil deutlich, es signalisiert eine hermetische Geschlossenheit: Entweder du hast Arbeit oder du bist arbeitslos. Setzen wir hingegen an die Binde- eine Leerstelle, setzen wir eine leere Klammer für das Genitiv-s, so bekommt unser Wort Luft zum Atmen.
Es macht einen Unterschied, ob jemand arbeitslos wird oder arbeit()los. Sagt einer: „Ich bin arbeitslos geworden“, so setzen wir instinktiv eine Trauermine auf, die Aura des Verlusts kriecht wie Ether durch Raum und Zeit. Sagt eine: „Ich bin arbeit()los geworden“, so können wir vielleichter fragen: „Und, wie fühlst sich das an? Wie geht es dir damit? Was bist du losgeworden, was hast du verloren – und was hast du gefunden?“ Diese leere Klammer markiert einen Riss, einen Riss, der auch den Riss in der Freiheitsglocke erinnern kann, einen Riss, der sich durch den neoliberalen Nexus von Arbeit und Freiheit zugleich zu ziehen scheint.
Sollten wir also auf die Idee kommen, die Glocke zu läuten, sollten wir nicht vergessen, dass der Riss sich vergrößern dürfte. Raum und Zeit könnten aus den Fugen geraten. Aber ist das wirklich so bedrohlich, wie es klingt?
Die Glocke war seit ihrer Erfindung ein Zeichengeber. Seit ihren Anfängen (im asiatischen Raum) und insbesondere seit dem europäischen Mittelalter ist sie zunehmend zum Zeitgeber geworden. Sie markierte die Zäsuren des Tages. Kein Smart Phone wäre ohne die Erfindung der Glocke denkbar. Setzen wir uns den nächsten Timer, stellen wir uns den (digitalen) Wecker; fast immer sind das Erinnerungen, etwas zu tun, und meist auch: zu arbeiten.
Arbeit()los werden – man meint die Glocken nicht mehr läuten zu hören. In Schillers „Lied von der Glocke“ wird der Zusammenhang von Arbeit und Zeit besonders eindrücklich (und unfreiwillig komisch) am Beispiel der Herstellung einer Glocke stilisiert:
„Heute muß die Glocke werden!
Frisch, Gesellen, seid zur Hand!
Von der Stirne heiß
Rinnen muß der Schweiß,
Soll das Werk den Meister loben“ (Schiller: Lied von der Glocke, Z. 3)
Früher verstand man unter dem Begriff der Arbeit ganz selbstverständlich eine Mühsal, etwas Notwendiges, nichts, von dem wir uns Freiheit versprochen hätten. Im Laufe der Jahrhunderte aber wurden die Begriffe von Arbeit und Freiheit mehr und mehr unter eine Glocke gestellt, als wollten wir um jeden Preis die Vereinbarkeit von Arbeit und Freiheit behaupten. Bei Schiller noch ist die Form der Glocke und der Prozess ihrer Formung eine Metapher für die Notwendigkeit der Struktur und gegen eine strukturlose Entfesselung, die man auch als eine Entfesselung der Zeit lesen könnte:
„Der Meister kann die Form zerbrechen
Mit weiser Hand, zur rechten Zeit;
Doch wehe, wenn im Flammenbächen
Das glühnde Erz sich selbst befreit!
Blindwütend, mit des Donners Krachen,
Zersprengt es das geborstne Haus,
Und wie aus offnem Höllenrachen
Speit es Verderben zündend aus.
Wo rohe Kräfte sinnlos walten,
Da kann sich kein Gebild gestalten;
Wenn sich die Völker selbst befrein,
Da kann die Wohlfahrt nicht gedeihn.“ (Schiller: Lied von der Glocke, Z. 342 ff.)
Es ist auch diese ideologische Glocke, die schon so lange einen Riss bekommen hat – und doch war auch noch das ganze 20. Jahrhundert von einem Kampf der Systeme geprägte, die ihr Heil, ihre Zeit und ihren Platz bei allen Differenzen unter dieser Glocke suchten. Die vom modernen Menschen geschaffene Form, in die man Raum und Zeit gegossen hat, ist die Form der Arbeit. Wie vertragen sich Arbeit und Freiheit?
In der Moderne hat es immer neue Versuche gegeben, die Spannung zwischen Arbeit und Freiheit neu aufzulösen. Die Ideen der Freizeit, der Selbstverwirklichung in der Arbeit oder der Befreiung von der Arbeit sind dabei zunächst ganz verschiedene Wege gegangen – und haben damit auf ihre Weise den Riss in der Glocke zur Kenntnis gebracht. In mancher Hinsicht scheint die Idee des Grundeinkommens ein neuer Versuch in dieser Geschichte zu sein. Angesichts dieser langen Geschichte scheint es durchaus ratsam, diesen Riss zunächst klar als solchen sichtbar werden lassen. Indem wir den Riss in der Glocke aus dem Museum holen und in die Sprache stellen, haben wir bereits einen ersten Schritt gemacht: Menschen werden arbeit()los, nicht arbeitslos.
Arbeit()los werden – eine doppelte Fourier-Transformation
Also: Ich bin nicht arbeitslos, ich erlebe vielmehr ein Arbeit()los-Werden, eine phantastische Fourier-Transformation. Denken wir dabei nicht nur an die mathematische Variante dieser Transformation (benannt nach Jean Baptiste Joseph Fourier), sondern an Fouriers Zeitgenossen Charles Fourier, den visionären Frühsozialisten. Denken wir uns den Prozess des Arbeit()los-Werdens schließlich auch als eine allmählich Erkundung dieser doppelten Fourier-Transformation. Im ersten Schritt, so habe zumindest ich es erlebt, wird das Raum- und Zeit-Erleben transformiert; im zweiten Schritt aber kommt es zu einer Transformation all jener Relationen, die wir nicht vollends verorten und verzeitlichen können. Arbeit()los werden, das könnte also heißen: diesseits der Formen von Arbeitsraum und Arbeitszeit haben wir einen ersten Einblick in die neue Welt bekommen, in welcher wir die Beziehungen der Zukunft verwirklichen können.
Bislang haben wir schon gut damit zu tun, die Idee der Arbeitslosigkeit zu transformieren. Arbeit()los werden, das ist eine Erfahrung, die ganz dem Denken in Transformationen geschuldet ist. Gerade Arbeit()lose erleben aber nicht nur Transformationen, sondern auch Reformationen und Deformationen. Wirklich arbeit()los aber sind Raum und Zeit noch nicht geworden. Die Arbeitslosen wie die Arbeitenden bewegen sich gleichermaßen unter einer rissigen Glocke, hören sie läuten, folgen ihrem Ruf oder sind taub dafür geworden.
„Knechte seid ihr, und Knechte werdet ihr bleiben.“ So lautete die Antwort Richard II. an die aufständischen Bauern, als er sein Versprechen ihrer Befreiung aus der Leibeigenschaft gebrochen hatte (1381). Vielleicht besteht die Herausforderung der Arbeit()losigkeit darin, die Knechtung von Raum und Zeit bleiben zu lassen.
Literatur
Marie Jahoda, Paul F. Lazarsfeld, Hans Zeisel: Die Arbeitslosen von Marienthal. Suhrkamp, 25. Auflage (2015) [1933]
Friedrich Schiller: Das Lied von der Glocke (1799)