Ich weiß noch genau, wie es ist, zum ersten Mal ohne Stützräder Fahrrad zu fahren, heimlich in die Keksdose zu greifen, um alles in der Welt endlich groß sein zu wollen, viel zu früh ins Bett zu müssen. Zu glauben, dass mein Leben davon abhängt, etwas gerade jetzt zu dürfen, zum Beispiel länger Aufbleiben. Getröstet zu werden, mich trösten zu lassen, mich völlig aufgehoben zu fühlen in jemandes Armen. Jeden Morgen schlagartig wach zu sein, alle, die mindestens zwei Jahre älter sind, uneingeschränkt zu bewundern. Die zu Feindinnen zu erklären, die vor fünf Minuten meine Freundinnen waren und das sofort wieder rückgängig zu machen. Mich vor allem möglichen zu fürchten und mit der Erklärung „Das gibt es doch gar nicht“ nichts anfangen zu können. Ausgelassen und selbstvergessen zu toben, Ironie nicht zu kennen, mir vor Wut in den Arm zu beißen. Ich weiß noch genau, wie es ist, ein kleines Kind zu sein. So lebhaft sind die Erinnerungen an meine eigene Kindheit, so groß vielleicht auch die Sehnsucht danach, dass alles noch offen und verheißungsvoll ist – und ich unschuldig bin. Doch weiß ich es wirklich? Kann ich mich deshalb wirklich so gut in eine Dreijährige hineinversetzen, wie ich glaube?
Vielleicht kann ich mir noch einiges vorstellen. Vielleicht sind nicht alle Erinnerungen nur Erinnerungen an Erinnerungen. Aber obwohl ich sehr viel Zeit mit meinem Kind verbringe, wird mir immer wieder klar, dass es mit dem Nachfühlen nicht so einfach ist, wie ich denken möchte. Alle Eltern kennen das: Eine beiläufige Bemerkung prägt sich dem Kind ein und beschäftigt es – erst Wochen später kriege ich das zufällig mit. Was ich dagegen für einen Quell der Probleme hielt, wird offensichtlich gar nicht registriert und verflüchtigt sich von selbst. Das Kind muss beim ganzen Weltverstehen und Sichdurchschlagen vieles auf seinen kleinen Schultern tragen, von dem wir nichts wissen. Manches können wir beeinflussen, anderes nicht. Was ist prägend, was wird bleiben? Was verankert sich im Unterbewusstsein, bestimmt Werte und Vorstellungen nachhaltig? Was davon wird immer verdeckt und verborgen wirken? Denn das wird es wohl – um das zu glauben, muss man keine Anhängerin der Psychoanalyse sein.
Was ich mir beim besten Willen kein bisschen vorstellen kann, ist, in einer Pandemie aufzuwachsen. Wie soll ich auch wissen, wie das Kind etwas erlebt, bei dem ich mit dem Erleben selbst nicht hinterherkomme? Das sich anfühlt wie ein freier Fall?
„Emil, der Sicherheistabstand! Du weißt doch, dass du daran denken sollst!“, ruft eine Mutter, als sich ihr Sohn zwei älteren Menschen auf dem Bürgersteig nähert. Indem er seine etwa vierjährige Tochter von einer Spielplatzbekanntschaft wegzieht, sagt ein Mann: „Wir spielen nur noch mit Kindern aus deiner Gruppe.“ Alles ist zu, keine Kurse finden statt, kein Schwimmen, Singen und Tanzen, Kindergeburtstage werden verschoben und die Kita ist – für die meisten – auch zu. Wenn etwas nicht geht, verschoben, abgesagt werden muss, also ständig, liefern selbst die Allerkleinsten schon selbst die Standardantwort: „Wegen Corona.“ Ob ein Besuch bei den Großeltern möglich ist, wird lange abgewogen. Bloß nicht andere Kinder küssen und nicht das Essen teilen. Körperliche Nähe birgt Gefahr. Corona ist unsichtbar und überall.
Nehmen Kleinkinder das Unverständliche hin, wie sie so vieles fraglos hinnehmen? An die Masken haben sie sich bei Erwachsenen leicht gewöhnt, scheint es. Immer wieder hört man, dass die älteren Kinder auch selbst gut mit dem Maskentragen zurechtkommen. Die Kinder können die befürchteten Konsequenzen der Pandemie ja noch nicht überschauen – nehmen sie es vielleicht gar nicht so schwer? Ich würde es gern glauben. Aber die Masken sind wohl das geringste Problem.
Man tröstet sich damit, dass alles nur von kurzer Dauer ist, es ein Davor und Danach gibt. Ein mieser Frühling, ein mieser Herbst, ein mieser Winter. Viele Sätze der Kinder fangen mit „wenn Corona vorbei ist“ an. Erwachsene mögen sich trösten lassen. Ein Jahr verfliegt für sie im Nu. Aber jedes der ersten Lebensjahre scheint im Nachhinein bedeutungsvoll zu sein. An die Namen meiner Kindergartenfreun*innen werde ich mich wahrscheinlich mein Leben lang erinnern – die Halbwertszeit der Bekanntschaften der letzten Jahre ist dagegen gering. Nicht umsonst erinnern sich sehr alte Menschen wohl besser an ihre Kindheit als an die mittleren Jahrzehnte. Der Hirnforscher Gerald Hüther sagt: Für einen Siebenjährigen ist ein Jahr wie zehn Jahre für einen Siebzigjährigen.
Was bringt es, diese Sorgen zu wälzen? Nicht viel, außer dass die Kinder vielleicht auch noch die eigenen Sorgen spüren. Ein Kind von drei Jahren kann natürlich nicht verstehen, was eine Pandemie ist, aber es spürt genau das: unsere Unsicherheit im Alltag, die Beklemmung, wenn wir sie mit Abstand und Maske an der Haustür von Freunden abholen, die Ratlosigkeit, was die Zukunft angeht, den frustrierten Unterton, immer wenn es um das C-Thema geht. Wenn wir oder unsere Nächsten nicht sogar selbst von C betroffen sind. Wir können es ihm nicht ersparen. C. ist da. Wir können nicht vorhersehen, welche Auswirkungen die Pandemie auf die Kinder hat, bewusst oder unbewusst. Wir können nur versuchen, es unseren Kindern so schön und „normal“ wie möglich zu machen. Krisen bewirken, dass alte Phänomene überflüssig werden, heißt es – Wir können nur hoffen, dass es nicht das unbefangene kindliche Zugehen auf Fremde (und Vertraute) ist.