Die Idee als Dynamit der Erzählung

Meine erste Begegnung mit der Philosophie hatte ich, als ich Sofies Welt von Jostein Gaarder las. Dabei waren es nicht allein Sachfragen, sondern die erzählerische Form, die mich in ihren Bann zog. In dem Jugendroman wird die 14jährige Sophie durch ominöse Briefe angeregt, über sich und ihren Platz im Universum nachzudenken, bis sie schließlich eine unheimliche Entdeckung über ihre eigene Existenz machen muss …

Und so brachen die Fragen der Philosophie damals über mich genauso wie über die Romanfigur herein – aber nicht einfach als irgendjemandes Fragen, sondern als Fragen, die meine Fragen wurden. Der Welterfolg und die besondere Wirkung, die das Buch auf mich hatte, waren kein Zufall. Bevor Jostein Gaarder Schriftsteller wurde, hatte er über viele Jahre ein Fach gelehrt, das es so nur in Skandinavien gibt: die sog. idéhistorie. Nach dem zweiten Weltkrieg orientierte man sich zunächst an klassisch bildungsbürgerlichen Idealen und war stark an literarischen Texten orientiert, bis das Fach in den 70ern und 80ern vom linken Zeitgeist beeinflusst einen ideologiekritischen Kurs einschlug. (1) Trotz dieser Anpassungen änderte sich aber nichts an der Grundausrichtung, die Welt der Ideen in ihrem historischen Kontext zu erkunden und – wichtiger noch – diese über den akademischen Betrieb hinaus in einer breiteren Öffenlichkeit bekannt zu machen. Schon Andreas Hofgaard Winsnes, der erste Professor für idéhistorie, schrieb eine Reihe von Jugendbüchern.

Jostein Gaarders Jugendroman steht in dieser Tradition. Dieser geht es, kurz gesagt, darum, das Unvertraute vertraut zu machen und das Vertraute fremd. (1) Der Blick in die Vergangenheit korrespondiert also mit einer Verfremdung der Gegenwart. Hier deutet sich ein literarisches Motiv an, das über die Vermittlung von Ideen hinaus geht, gerade weil es die erschütternde Wirkung von Ideen ernst nimmt. Diese irritierende Funktion dockt einerseits noch ganz bei Platon an, wo die Ideenwelt von der Welt der Erscheinungen abgehoben ist, und so einen doppelten Boden entstehen lässt, auf dem wir durch unser Leben wandeln. (2) Zugleich eröffnet die ideengetriebene Irritation eine Möglichkeit zum Erzählen. Nicht nur in der klassischen Heldenreise bindet die von außen angestoßene Passage einer Hauptfigur von der vertrauten in eine unvertraute Welt Handlungsverlauf und Persönlichkeitswandel aneinander. Es ist oft genug der Sog einer großen Enthüllung oder einer rettenden Einsicht, der Handlung und Figurenentwicklung vorantreibt. Am Höhepunkt solcher Erzählformen steht eine Tat, in der die zentrale Idee sich bewähren muss – oder die Hauptfiguren daran scheitern.

Das Erzählen einer Idee ist nicht nur ein zentrales dramaturgisches Motiv, es hat auch ganze Genres geprägt. In der Literatur der Phantastik und der Science Fiction ist das sog. Worldbuilding ein stilbildendes Merkmal. Das Erfinden und Austüfteln imaginärer Welten auf Basis von magischen und/oder technologischen Rahmenbedingungen nimmt in diesen Genres eine ebenso wichtige Rolle ein wie deren literarisches Wahrscheinlichmachen. Dabei geht es nicht um die oft vorgeworfene Weltflucht, sondern auch hier um eine an imaginären Vergangenheiten oder Zukünften orientierte Verfremdung. Die immer noch handlichste Definition des Phantastischen zeigt dies: „Das Fantastische ist die Unschlüssigkeit, die ein Mensch empfindet, der nur die natürlichen Gesetze kennt und sich einem Ereignis gegenübersieht, das den Anschein des Übernatürlichen hat.“ (3) Folgt man der Auffassung von Tzvetan Todorov, so geht es einer genuin modernen Phantastik immer auch um die Erschütterung unseres Weltsinns. Nicht alleine das Spiel mit der künstlichen Welt, sondern die unheimliche Nähe von Fiktion und Realität ist es, die das phantastische Genre in seinen Spielarten ausmacht. Beispielhaft für den Auftritt eines derart verstandenen Phantastischen sind etwa die Romane Philip K. Dicks, Borges‘ oder das filmische Werk Christopher Nolans.

Doch ebenso wie Ideen das Erzählen voranbringen können, stellen sie sich diesem auch in den Weg. Am eigenen Leib erfahren mussten dies etwa Goethe und Schiller. Gleich in ihren ersten Briefen – nach dem eigentlichen Kennenlernen im Jahre 1794 – gestehen die beiden einander ihre Schwächen. Goethe eröffnet die Geständnisrunde. Wenn er ihn erst näher kennengelernt habe, so werde Schiller „eine Art Dunkelheit und Zaudern“ bei ihm entdecken, derer er nicht Herr werden könne, auch wenn er sich dessen bewusst sei. (4) Schiller antwortet ähnlich gestimmt. Goethe solle bei ihm „keinen großen Reichtum von Ideen“ erwarten, er habe nur die Wahl „aus wenigem viel zu machen“ (5).

Bald kommt Schiller auf die verheerende Wirkung zu sprechen, die das Studium der Philosophie auf ihn gehabt habe. Im Sommer des gleichen Jahres hat er „alle Arbeiten liegen lassen, um d[en] Kant zu studieren.“ (6) Als er sich dann im Herbst endlich wieder ans Poetische macht, ist sein Selbstbewusstsein im Keller. Vor seinem nächsten Projekt (dem Wallenstein) ist ihm „angst und bange“ (7). Schiller empfindet sich, sein Schreiben jetzt als eine Art Zwitterwesen zwischen Begriff und Anschauung, zwischen Regel und Empfindung, zwischen technischem Kopf und Genie (5). Statt sich gegenseitig zu befruchten, kommen Philosophie und Poesie einander in die Quere: „gewöhnlich übereilte mich der Poet, wo ich philosophiren sollte, und der philosophische Geist, wo ich dichten wollte. Noch jetzt begegnet es mir häufig genug, daß die Einbildungskraft meine Abstractionen, und der kalte Verstand meine Dichtung stört.“ (7) Die Ideen stören das Erzählen, das Erzählen die Durchdringung der Ideen.

Goethe steckt in durchaus ähnlichen Schwierigkeiten. Immerhin sieht er einen Vorteil der Philosophie darin, ihm bei der Selbst-Distanzierung zu helfen. Gleichwohl reichen die Ideen doch nie an die Realität heran: „sie passen auch nur auf Einen Theil der Phänomene“, im Grunde aber bleibe die Natur für den einzelnen Menschen unergründlich. (8) So sehr Goethe etwa von Schellings Naturphilosophie beeindruckt ist, sie drängt sich auch ihm auf und verfolgt ihn gar bis in die Fieberträume. Erst schreibend kann Goethe sich von der gefährlichen Wirkung befreien, indem er den magischen Ideentaumel an seinen Faust abtritt und sich diesem, etwa von Seiten Mephistos, mit ironischer Distanz annähert. Schreiben erscheint hier durchaus auch als ein Mittel, sich die Philosophie vom Leib zu halten.

Das literarische Schreiben gerät also fraglos ins Taumeln, schickt man es über die sieben Weltmeere der Philosophie. Gibt man der Philosophie zu viel Raum in der Erzählung, so ist zu befürchten, dass dabei immer nur schwer verdauliche Thesenromane und dozierendes Ideentheater herauskommen, deren piesackende Zeigefinger den Lese- und Schreibgenuss permanent zu zerstören drohen. So kam die Philosophin und Literatin Iris Murdoch auf die Frage, welche Rolle die Philosophie in der Literatur spielen könne, zu dem lakonischen Fazit: „Nun, ich denke, man sollte die Philosophie da raus halten. (…) Sobald Philosophie in einen Roman hineinkommt, neigt sie dazu, die Rolle des Autors einzunehmen. Es ist eine sehr gefährliche Beschäftigung.“ (9) Es scheint, als könnten sich Philosophie und Literatur nicht auf Augenhöhe begegnen.

Iris Murdoch sieht Literatur und Philosophie in einer Konkurrenzsituation (10). Zwar suchen beide nach der Wahrheit, aber während das Erzählen etwas Natürliches sei, betrachtet Murdoch das Philosophieren im Grunde als widernatürlich. Die Philosophie dränge auf stilistische Klarheit und den Ausschluss von Emotionen. Die Literatur finde ihre Wahrheit hingegen in der Mehrdeutigkeit und im Hervorrufen von Emotionen. Der Umgang mit Sprache könnte also nicht gegensätzlicher sein. Während die Sprache der Literatur immer mehr meint, als sie sagt, neigt die Philosophie dazu genau das zu sagen, was sie meint, und gleichzeitig, nichts stehen zu lassen. Der Umgang mit der Sprache kann so zur Stolperfalle werden.

Iris Murdoch betont also zurecht, dass Philosophie und Literatur einander sehr schaden können. Gleichwohl genügt es nicht, die Spannung zu problematisieren, die zwischen dem literarischen und dem philosophischen Verhältnis zur Wahrheit besteht. Sie muss in produktiver Weise genutzt werden. Für die Literatur heißt das: Die Ideen müssen von der literarischen Oberfläche nahezu gänzlich verschwinden. Das ist das glatte Gegenteil von Making it explicit, wie es das Hauptwerk des amerikanischen Sprachphilosophen Robert Brandom fordert. Erst wenn Ideen implizit geworden sind, also in die Verwendung der Sprache, die Struktur der Handlung und die Veränderung der Persönlichkeit eingesickert sind, können sie dem Erzählen dienen. (11) Umgekehrt muss das Erzählen sich aber auch einer bestimmten Idee unterordnen, um nicht in einer unüberschaubaren Vielfalt von Ideen zermahlen zu werden. Ideen sind Dynamit. Die Schwierigkeit im erzählerischen Umgang liegt darin, diese Sprengkraft der Idee im Spannungsraum von Text und Subtext abzumildern.

Nichtsdestotrotz, Idee und Erzählung, literarisches und philosophisches Schreiben werden sich einander niemals unterordnen, gerade weil sie einander ebenbürtig sind. Sie gehen ihre Verbindung nur dann freiwillig ein, wenn sie gemeinsam einem höheren Zweck dienen können. Worin dieser besteht, lässt sich allgemein nicht bestimmen. Es bedarf vielmehr einer Praxis, die den theoretischen Widerspruch von Idee und Erzählung überwindet. Erst in der Durchführung, von Mal zu Mal neu, kann sich zeigen, wie dies gelingen kann. Die Literatur rückt so in die Rolle einer Bombenentschärferin. Im Zweifel hilft nur eines: kontrollierte Sprengung.

Fußnoten

(1) vgl. zum gesamten Absatz: Vigdis Andrea Evang: „Can we do this in English? Scandinavian Idéhistorie and the Language Question“ (Journal of the History of Ideas Blog) – Link zur Quelle.

(2) Wer Sofies Welt aufmerksam liest, wird bemerken, dass sich aus diesem philosophischen Motiv denn auch der Handlungsbogen ableiten lässt.

(3) vgl. Kay Wolfinger: „Realität oder Traum? Tzvetan Todorovs Einführung in die fantastische Literatur in einer Neuauflage“ (Literaturkritik.de) – Link zur Quelle.

(4) Goethe an Schiller, Ettersburg, 27. August 1794

(5) Schiller an Goethe, Jena, 31. August 1794.

(6) Schiller an C.G. Körner, 4. September 1794

(7) Schiller an C.G. Körner, Jena den 4. Juli 1794.

(8) Goethe an Schiller, Weimar, den 25. Februar 1798

(9 – 10) Das Gespräch zwischen Iris Murdoch und Bryan Magee wurde erstmals 1977 bei BBC ausgestrahlt. Zitate aus eigener Übersetzung. – Link zur Quelle.

(11) Es soll nicht unerwähnt bleiben, dass Jostein Gaarder in Sofies Welt diese Regel abgewandelt hat. Doch auch wenn Gaarder seine Leser:innen mit mehr als einer philosophischen Ideen konfrontiert, hat Gaarder seinen Gang durch die Ideengeschichte dennoch einer erzählerischen Leitidee untergeordnet.

Beitragsbild: Das Bild „concrete ideas“ von caffeineslinger ist lizensiert unter CC BY-NC-SA 2.0.

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