Advent, Advent: Familie brennt

Sich in der Adventszeit mit dem Thema „Familie“ zu beschäftigen, war naheliegend – aber auch ein bisschen unbesinnlich. Dabei feiern wir – jenseits christlicher Obertöne – in der Adventszeit heute vor allem die Ankunft der Familie. Das ist wohl auch der Grund, warum das Fest die Säkularisierung nicht nur überstanden hat, sondern im Zuge derselben geradezu aufgeblüht ist. Die Adventszeit zeigt wie vielleicht keine andere Zeit im Jahr, worauf es bei der Familie ankommt. Das ist ein riesiges Durcheinander aus Einkäufen, Verwandtenbesuchen, To-Do-Listen, Kindheitserinnerungen, Konfliktbewältigungsversuchen, Spezialwünschen, ICE-Strecken, Rollenzuschreibungen, Rebellion und Rosinen im Teig. Und im Hintergrund dudelt schließlich irgendwann „Last Christmas“, womit man subtil an die ewige Wiederkehr der Adventszeit und damit auch der Familie erinnert wird.

Während also die brennenden Kerzen auf dem Adventskranz zunahmen, flochten sich meine kleinen und großen Entdeckungen rund um die Familie fast von selbst ein. Als heimliche Leitmetapher dieses Beitrages steht der Adventskranz darum sinnbildlich für die kreisförmige Zeitstruktur der Familie und ihre Eigenart auf sich selbst zu warten.

Familie als Funktion der Gesellschaft (1. Kerze)

Will man sich an einer Kritik der Familie versuchen, dann gilt es zunächst, sich den eigentlichen Sinn von „Kritik“ vor Augen zu führen. Der wissenschaftlichen Kritik geht es, anders als es der allgemeine Sprachgebrauch will, nicht um radikale Ablehnung, sondern um eine methodisch geleitete Form des Hinsehens. Die verschiedenen Disziplinen der Familiensoziologie, -ökonomie und -psychologie interessieren sich darum für die tatsächlichen Bedingungen der Entstehung, der Wandelbarkeit und der Weitergabe dessen, was im Kontext der Familie geschieht. Die Familie muss man darum von vornherein als ein Phänomen betrachten, das sich über lange Zeiträume erstreckt und wenn nicht im Realen, so doch wenigstens im Imaginären eine kreishafte Struktur bildet. Kurzum: Die Familie neigt dazu, sich selbst zu reproduzieren.

Die (dem Wortsinn nach mehrdeutige) „Reproduktionsarbeit“, die die Familie als Ganze zu leisten hat, ist zunächst nicht auf ihr vermeintliches Äußeres (die Berufswelt, die Wirtschaft, die Öffentlichkeit) bezogen, sondern auf sich selbst. Die Familie erscheint so zunächst als eine selbstbezügliche Struktur. Zugleich zieht eben diese Selbstbezüglichkeit der Familie allerlei vermeintlich fremde Bezüge in ihren Wirkungskreis hinein, weshalb eine strenge Abgrenzung des Familiären und Nicht-Familiären nicht möglich ist. Die Reproduktionsarbeit in der Familie wird damit zur Reproduktionsarbeit für die Gesellschaft. (1) Durch die wechselseitige Abhängigkeit ist die Familie bevölkert von all dem, wogegen diese zugleich als Bollwerk ausgerichtet ist. Sie ist damit, folgt man etwa dem Paradigma Bronfenbrenners, ein sozial-ökologisches Phänomen in Raum und Zeit. (2) Wenn die Familie also in politischen Sonntagsreden etwa als die Keimzelle der Gesellschaft beschworen wird, dann ist das falsch und richtig. Richtig ist es, weil die Reproduktion der Gesellschaft ohne die Familie nicht möglich wäre, und falsch ist es, weil auch die Familie ohne die Gesellschaft nicht möglich wäre. Dieses Netz der wechselseitigen Abhängigkeiten kann man unterschiedlich beschreiben.

Aus Sicht des sog. Strukturfunktionalismus erfüllt die Familie eine Reihe von Funktionen für die Gesellschaft und ist darum unverzichtbar. Zunächst einmal spart sie dem Staat eine Menge Geld. Wie viel, ist schwer zu sagen. Staatssekretär Wolfgang Bodenbender schätzte den Sparfaktor in Deutschland schon Mitte der 90er Jahre auf über 15 Billionen Mark (3). Doch die Familie spart dem Staat nicht nur Geld, sie beliefert ihn auch mit seiner wichtigsten Ressource: den Menschen. So beschrieb der Soziologe Talcott Parsons die Familie bereits vor Jahrzehnten als eine „Fabrik von Persönlichkeiten“. Das ist eine mindestens zynisch klingende Formulierung für die Tatsache, dass die primäre Sozialisierung und der primäre Spracherwerb des Menschen meist innerhalb der Familie erfolgen. (An den biologischen Teil dieser „Fabrikation“ hat Parsons offenbar nicht gedacht.) Aus bildungs- und sozialpolitischer Sicht ist dieser Umstand bekanntlich Fluch und Segen, denn die Kernfunktionen der Familie sind einerseits ein zentraler Faktor für die Kontinuität der Gesellschaft, andererseits reproduzieren Familien auf mehreren Ebenen so auch die Ungleichheiten innerhalb der Gesellschaft.

Man kann die ambivalente Kontinuität, die Familien stiften, auf mindestens zwei Faktoren zurückführen, die der politischen und juristischen Kontrolle weitestgehend entzogen sind: die Partnerwahl und die Vererbung. Während das Erbrecht zumindest einen marginalen Zugriff auf die finanzielle Seite der Vererbung hat, sind die meisten Aspekte der biologischen, sozialen und kulturellen Vererbung dem Einfluss von Rechtsprechung und Politik entzogen. (4) Die sog. Partnerwahl wiederum ist der wohl größte, gesellschaftlich praktisch nie debattierte Faktor bei der sozialen Reproduktion und der Zementierung gesellschaftlicher Ungleichheiten. Die empirisch gut erforschte sog. „Bildungshomogamie“ besagt, dass Menschen Partner:innen mit gleichem oder ähnlichem Bildungshintergrund auswählen. Die Soziologie verweist hierbei (in unnachahmlich trockener Sprache) auf die „strukturierende Wirkung des Bildungssystems als Partnermarkt“ (5). Die sog. Homogamie-Präferenz ist so stark ausgeprägt, dass selbst der nachhaltige Eingriff durch das Bildungssystem an den durch Partnerwahl und Familiengründung angebahnten Unterschieden weniger ändern kann als wir oft meinen. Die Forschung zeigt weiterhin, dass die homogame Partnerwahl im Laufe der letzten Jahrzehnte nicht zurückgegangen ist (6). Das Bildungssystem gibt so gesehen vielleicht nicht vor, in wen Menschen sich verlieben, aber doch, mit welchen Menschen sie wahrscheinlich eine Familie gründen werden. Dieses in liberalen Staaten kaum änderbare Phänomen belegt insofern gut, dass die Familie laut Parsons auch der sog. Persönlichkeitsstabilisierung ihrer Mitglieder dient. Heute würde man vielleicht sagen: der mentalen Gesundheit, weltanschaulichen Orientierung, der Kontingenzbewältigung und der Selbstbestätigung. Indem die Familie für die Gesellschaft diese stabilisierende Funktion einnimmt, stabilisiert sie zugleich ökonomische und soziale Verhältnisse. Die Metapher vom „sicheren Hafen“ ist also von unverminderter Aktualität. Der strukturfunktionalistische Ansatz erscheint heute vielfach als veraltet, dabei lässt er sich durchaus aus kritischer Perspektive aufgreifen, erklärt er doch sehr gut, wie ambivalent die stabilisierende Wirkung von Familien auf die Gesellschaft ist.

Vater, Mutter, Kind – ein Improvisationstheater (2. Kerze)

Gegen den strukturfunktionalistischen Zugriff auf die Familie hat sich in der Forschung schon vor Jahrzehnten Widerstand aus mindestens zwei verschiedenen Richtungen geregt. In der Interaktionsforschung erscheint die Familie nicht einfach mehr als Funktionsträger, sondern als Ort der individuellen Ausgestaltung, der Aushandlung und Anpassung. Die Familie wird nicht mehr nur auf der Makroebene betrachtet, sondern von Seiten ihrer Akteure ernster genommen. Das heißt: Familien gestalten, ja konstruieren ihre gelebte Wirklichkeit selbst. Neben der symbolischen Interaktionstheorie beschreiben Theorien der rationalen Wahl („rational choice“) die Familie als Ergebnis von Kosten-Nutzen-Abwägungen ihrer Interakteure. Gerade dieser familienökonomische Ansatz war erstaunlich erfolgreich darin, den Wandel der Familienformen im Laufe der letzten hundert Jahre zu erklären. (7)

Die Erfolge der handlungs- und akteurorientierten Theorien bedeuten allerdings nicht, dass die Akteure innerhalb der Familie einfach als selbstbestimmte Individuen zu begreifen sind. Vielmehr lebt jedes Mitglied einer Familie nicht nur, aber doch stark in den Rollen, die es in der Familie ausübt, die es dort zugeschrieben bekommt, sich selbst aneignen kann, aus denen es seinen Nutzen ziehen mag oder darunter und oft zugleich leiden muss. Das psychodynamische Theater, das noch in jeder Familie gespielt wird, folgt darum durchaus überindividuellen Skripten und bisweilen mag es scheinen, als sei der Faktor des Individuums etwa der Interpretationsleistung eines Schauspielers in einem Stück vergleichbar. Die Hinwendung zu dem, was wir tun und sagen, wenn wir in der Familie handeln (oder nicht handeln), führt also nicht dazu, dass wir die Kräfte, die innerhalb und durch die Familien hindurch wirken, vernachlässigen können. So hat die sog. Narrationsanalyse etwa gezeigt, wie gut sich aus Interviews mit Familienmitgliedern die (Macht-) Verhältnisse innerhalb der Familie rekonstruieren lassen (8). Bei allen individuellen Unterschieden und Familienformen bleibt also, dass bestimmte Rollen oft so stark sind, dass sie uns zur Anpassung drängen können, selbst wenn sich dabei bisweilen Normen- und Wertekonflikte zeigen. Am Beispiel der statistisch weiterhin nachweisbaren ungleichen Aufteilung von Familienarbeit zwischen Männern und Frauen zeigt sich dabei gerade in jüngerer Zeit, dass Diskrepanzen zwischen (neuer) Norm und (alt bekannter) Wirklichkeit in der Familie durchaus Normalität sind. Die sog. „Alltagsvergessenheit“ von Vätern, ihre „verbale Aufgeschlossenheit bei weitgehender Verhaltensstarre“ (9) wird auch in den heutigen Aushandlungsprozessen darum oft eher versöhnt als aufgelöst. Ein besonders modernes Selbstverständnis junger Eltern, so legt der jüngste Väterreport von 2023 nahe (10), geht tendentiell gar mit einer ungleicheren Aufgabenteilung einher.

„Vater“, „Mutter“ und „Kind“ sind nicht nur, aber immer auch Funktionsträger innerhalb der Familie. Neben ihren Sonderfunktionen dienen alle diese Rollen immer auch als Träger der Familienideologie insgesamt. Jede Rolle für sich wird darum immer auch zum Träger von Widersprüchen der Familie insgesamt, denn das Familienleben hat im Laufe der Moderne seine Selbstverständlichkeit zunehmend verloren und unterliegt „einem konstanten Reflexions- und Begründungsdruck“ (11). Kinder, Mütter und Väter werden somit – auf je unterschiedliche Weise – zu Stellvertreter:innen, sie wirken mit bei einer okkulten Form der invertierten Repräsentation, denn vielfach repräsentieren diese auch das, was auf den ersten Blick gerade nicht Teil der Familie zu sein scheint. Die Familie ist somit nicht nur ein kleines Theaterstück, sondern auch ein kleines Parlament der äußeren Wirklichkeit. Die Kritik der Familie findet, so gesehen, vor allem innerhalb der Familie statt und wirkt aus dieser Halböffentlichkeit in alle sozialen Milieus und auf die öffentlichen Diskurse.

Betrachten wir diese ambivalente Situation einmal am Beispiel des Kindes. In der Rolle des Kindes spiegeln sich heute nämlich zwei Charakteristika der (späten) Moderne wider: die Erfindung der Kindheit und die weitestgehende Abschaffung von gesellschaftlichen Initiationsriten am Ende der Jugendphase. Kindsein heißt heute, mehr denn je, in einem widersprüchlichen Erwartungsfeld zu agieren. Auf der einen Seite steht Kindern heute eine Vielfalt von Genüssen zur Auswahl, auf der anderen Seiten müssen sie den Umgang mit der Konkurrenz der Genüsse frühzeitig lernen. Einerseits haben wir es mit einer schier endlos verlängerten Kindheit zu tun, die das Nesthocken (eine ohnehin sehr menschliche Daseinsform) auf Dauer gestellt hat, andererseits wird von Kindern heute in psychologischer und kommunikativer Hinsicht ein Vielfaches an Selbstbeherrschung verlangt, was mit einer bis ins Kleinkindalter vorgezogenen elterlichen Erwartung an das Sozialverhalten des Kindes einhergeht.

Mir scheint es demzufolge angemessen, vom „hybriden Kind“ zu sprechen, das früh lernen muss, seine „reflexive“ Kindheit und Jugend zu leben. Spiegelbildlich dazu haben wir, als Nebeneffekt zunehmend egalitärer Eltern-Kind-Beziehungen, Nachholeffekte bei Eltern, die ihr „inneres Kind“ oder ihre Adoleszenz oft bis ins Rentenalter hinein performativ ausleben bzw. wiederentdecken können und müssen. Zusammengefasst: Kindsein heißt nie erwachsen werden, immer schon erwachsen sein.

Gerade weil es heute permanente Übergänge gibt, Passagen der Kindheit, und wir als Gesellschaft zunehmend Wert darauf legen, diese Übergänge möglichst fließend zu gestalten, entsteht ein psychosoziales Vakuum, weil diese Übergänge nicht wirklich aus der Kindheit herausführen, sondern nur die Art Kind zu sein verändern. Trotzphasen, Pubertäten, Quarter-Life-Krisen uvm. rekapitulieren derartige Übergänge darum und sind wohl das, was in früheren Gesellschaftsformen einmal die (oft grausamen) Initiationsriten geleistet haben. (12) Wo Mütter früher um ihre „toten“ Kinder weinten, nachdem sie den Initiationsritus durchlaufen und als vollwertige Mitglieder der Gemeinschaft „zurück“ kehrten, lässt die Gesellschaft Jugendliche und die darin ja involvierten Familien bei ihrer Transformation heute nicht selten alleine und leugnet vielfach die für Statuspassagen typischen, ambivalenten Gefühle.

Kleinfamilie forever – eine Familiengeschichte des Westens (3. Kerze)

Womit wir denn nun auch bei der Frage angelangt wären, was für einen historischen Wandel die Familie im Laufe der Jahrhunderte eigentlich durchlaufen hat. Die Forschung ist sich hier in einem Punkt erstaunlich einig: Es gibt eine Reihe von Mythen der Familie, die von der empirischen Forschung nicht bestätigt werden können. Der wohl wichtigste moderne Mythos ist derjenige der Großfamilie (13). Ein Blick in die Geschichte des Westens zeigt: Die Kleinfamilie ist seit der Antike das beinahe unbestrittene Standardmodell und der Prozess ihrer „Modernisierung“ erstreckte sich über große Zeiträume hin. Schon innerhalb der römischen Kleinfamilie kommt es allmählich zu einer schrittweisen Entmachtung der Rolle des Patriarchen. (14) Die Institution der Ehe, ihre schrittweise Verrechtlichung und ihre weitere Aufwertung im Christentum führt etwa – gemessen an damaligen Umständen – zu einer Verbesserung der Rolle der Frauen. Die Ehe garantiert Frauen sogar einen gewissen Rechtsschutz (15). Dass es sich bei der „Ehe“ durchaus um ein Privileg für alle Beteiligten handelte, sieht man u. a. darum, dass dieses teilweise bis ins 20. Jahrhundert vielen Paaren selbst mit Kindern verwehrt war, weil vielfach höhere weltliche Autoritäten ihre Zustimmung geben mussten und die Ehe an ökonomische Befähigung geknüpft war. (16) Uneheliche Kinder gehörten darum vom Mittelalter bis weit in die Neuzeit hinein zu einer weit verbreiteten Normalität. Die vermeintlich neue Vielfalt der Familienformen, urteilt die Forschung einhellig, ist darum ein alter Hut.

Im Mittelalter war das Modell der Kernfamilie in Mittel- und Westeuropa fest etabliert. Das Verwandtschaftssystem ist bei der Mehrheit der Bevölkerung nicht vater-, sondern elternzentriert. Die Eltern heirateten spät, hatten 2-3 Kinder und lebten nur selten mit anderen Verwandten oder der Großelterngeneration unter einem Dach. Schon die mittelalterliche Kernfamilie neigte in Mittel- und Westeuropa aufgrund agrartechnischer Neuerungen zu einem Egalisierungsschub. (17) Die paarweise Ernte von Mann und Frau auf dem Feld kann so betrachtet als Sinnbild der bäuerlichen Kleinfamilie verstanden werden. Fraglos sind auch hier patriarchale Elemente nachweisbar, vor allem in Fragen der Repräsentation des Hofes gegenüber dem Landesherren (18). In einer ökonomisch und ideologisch extrem hierarchischen Gesellschaftsordnung dürfte die Ungleichheit zwischen den Geschlechtern allerdings weniger dramatisch erschienen sein als aus heutiger Perspektive. Ohnehin ist zu bedenken, dass die Kategorie der Ungleichheit vor der Zeit der beginnenden Aufklärung nur selten zur Bewertung sozialer Ordnungen herangezogen wurde.

Erst im Zuge der Modernisierung wird die Ungleichheit zwischen den Geschlechtern zu einem Kernproblem sozialer Reformen werden. Vor allem der Aufstieg des Bürgertums dürfte der Degradierung von Frauen innerhalb der (Klein-)familie zur Sichtbarkeit verholfen haben, weil der Liberalisierungsschub, von dem das Bürgertum in seiner schrittweisen Emanzipation von weltlichen und kirchlichen Autoritäten profitierte, vor allem den Männern zufiel und diesen innerhalb der Familie zu einer neuen, ideologisch abgesicherten Machtposition verhalf. Im Zuge der Verbürgerlichung der Gesellschaft hat sich darum das Modell ungleicher Arbeitsteilung und ungleicher Entscheidungsbefugnisse noch stärker durchsetzen können. Zeitgleich war es auch die bürgerliche Familie, in welcher sich ideologisch die Vorstellung durchsetzte, dass Ehe und Liebe miteinander einhergehen sollten (19). Mitunter noch stärker als die christliche Sexualmoral hat dies zu einer Kontrolle des Sexualverhaltens und damit einhergehenden Pathologien geführt. Die gleichzeitige Überhöhung und Intimisierung der Sexualität in der bürgerlichen Familie wurde so zum Markenzeichen moderner westlicher Gesellschaften.

Die Entstehung der modernen Medizin und die Industrialisierung schließlich haben in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts dazu geführt, dass es nun tatsächlich – und erstmals in der Geschichte des Westens – zur Entstehung von Großfamilien kam. Die beiden Hauptgründe waren die Reduktion der Kindersterblichkeit und die Verlängerung der Lebenserwartung. Während der durchschnittliche Haushalt einer mittelalterlichen Familie aus 3-4 Personen und zwei Generationen bestand, leben nun erstmals in größerem Ausmaße drei Generationen mit vielen Kindern unter einem Dach. Die Zeit der Großfamilie war kurz und schon in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts geht sie allmählich wieder zu Ende. Die Kleinfamilie der 50er- und 60er Jahre in den USA wie auch in Westeuropa stellt die Rückkehr zu einem Regelfall dar – jedenfalls was die Geschichte des Westens anbelangt.

Familie als Ort der Unterdrückung und der Befreiung (4. Kerze)

Schon Adorno und Horkheimer bemerkten in ihren Studien der 1930er Jahre, dass die Familie nicht als ein Randphänomen, sondern als zentrales Phänomen kapitalistischer Gesellschaften zu analysieren ist. Die Klassen- und Geschlechtsverhältnisse des frühen 20. Jahrhundert verstanden die Autoren als zutiefst miteinander verschränkt und nahmen damit bereits Aspekte der heutigen Intersektionalitätsforschung vorweg (20). Im Rahmen der Kritischen Theorie bemerkten sie, dass die Rolle der Frau in der späten Moderne nicht mit den ökonomischen Veränderungen Schritt hielt. Der Ausschluss der Frauen von einem bürgerlichen Leben als Arbeitskraft ist der Nachhall einer modernen, bürgerlichen Familienordnung, die sich erst im Zuge der Zwischen- und vor allem der Nachkriegsgesellschaften auflockerte. Die Familie erscheint aus Sicht der Kritischen Theorie dabei zugleich als Ort der Unterdrückung und der Befreiung (21).

Der gesellschaftliche Wandel, den wir seit dieser inzwischen bald 100 Jahre alten Diagnose erlebt haben, würde uns heute deutlicher vor Augen stehen, wenn das Tocqueville-Paradoxon uns nicht daran hinderte: Je stärker es zum Ausgleich sozialer Ungleichheiten kommt, desto offenkundiger werden die bleibenden Ungerechtigkeiten. (22) Dieser erstmals von Alexis de Tocqueville am Beispiel der Französischen Revolution beobachtete Effekt erschwert bisweilen zu sehen, wie stark der soziale Wandel gewesen ist. Doch nicht nur soziale Reformen haben die Familie bis ins Innerste verändert.

Eine der wichtigsten Veränderungen der Familie geht, ähnlich wie im Mittelalter durch die Agrartechnik und in der Moderne durch die Industrialisierung, von einer technologischen Veränderung aus: die massenweise Verfügbarkeit von Verhütungsmitteln. Der daraus resultierende sog. zweite demographische Umbruch hat in vielen Teilen der Welt Gesellschaften hervorgebracht, in denen die Reproduktionsrate deutlich unter den Wert von 2,1 gefallen ist – und wohl noch weiter sinken wird. Der Umbruch zeigt erneut, wie eng verzahnt Familie und Gesellschaft sind, dass Veränderungen innerhalb der Familie die Gesellschaft als Ganze verändern und wie schwer Menschen sich damit tun dies anzuerkennen. So fällt es dem politischen Diskurs noch Jahrzehnte, nachdem diese Entwicklung begonnen hat, schwer, eine simple Konsequenz zu benennen: Alle Gesellschaften, die diesen Umbruch erlebt haben oder gerade durchlaufen, sind nachhaltig auf Einwanderung angewiesen sind. Der Effekt, der von der gesteigerten Autonomie der Menschen bei der Familienplanung ausgeht, ist so stark, dass er weltpolitische Bedeutung hat. Ähnlich wie beim Klimawandel tun wir uns schwer damit, für menschliches Bewusstsein langsame, aber umwälzende Veränderungen anzuerkennen.

Die Familie im 21. Jahrhundert ist, anders als viele Unkenrufe der letzten Jahrzehnte immer wieder prophezeiten, ein lebendiges Phänomen der Gegenwart. Gegen die vielfache These des allmählichen Funktionsverlustes halte ich das Gegenteil für plausibler: Noch nie hatte die Familie für die Gesellschaft so viele Funktionen wie heute. Sie stellt für viele Jahre eine derart verdichtete Organisations- und Kommunikationseinheit dar, dass sie für ihre Mitglieder zu einer zweiten Haut wird. Auch ohne perfektionistische Ansprüche von Eltern neigt die Familie zur strukturellen Überlastung, wenn es etwa um die Sicherstellung eines erfolgreichen Bildungsweges der Kinder geht. Der vielerorts beobachtbare Bedeutungsverlust von Verwandtschaft, aber auch Nachbarschaft hat diese strukturelle Überlastung in den letzten Jahrzehnten deutlich verstärkt. Gleichzeitig – auch das ein Paradox – hat eben diese Überlastung dazu geführt, dass der Staat immer stärker eingreifen muss, um die Familie beim Erfüllen ihrer Funktionen zu unterstützen. Diese Funktionsüberlastung, die sich auf alle Mitglieder der Familie unterschiedlich auswirkt, führt zu neuen (und teils alten) Widersprüchen, die es innerhalb der Familie auszuhandeln und auszuhalten gilt. Immer noch ist die Familie Ort der Befreiung und der Unterdrückung.

Während also ein Bedeutungsverlust der Familie nicht absehbar ist, sind wir zugleich Zeitzeugen paradigmatischer Umwälzungen ihres Betriebssystems. Die Familie des 21. Jahrhunderts ist ein zutiefst hybrides Phänomen. Insbesondere die moderne Unterscheidung von privater und öffentlicher Sphäre wird durch Digitalisierung und New Work zunehmend durchlässig gemacht. Eine abgeschiedene Privatheit der Familie erscheint schon heute wie ein moderner Mythos. Während der Aufstieg der bürgerlichen Familie etwa mit der Trennung von Arbeits- und Wohnwelt zusammenfiel, beobachten wir heute die zunehmende wechselseitige Durchdringung der ehemals getrennten Sphären. Obwohl die Familie immer noch als Schutzort vor und Bollwerk gegen eine raue Gesellschaft empfunden wird, ist sie zugleich bis ins Mark durchdrungen von all dem, was sie auszusperren versucht.

Die Familie im 21. Jahrhundert ist so auch zwischen den Zeiten zerrissen: Während das Echo einer bürgerlich-patriarchalen Gesellschaftsordnung nachhallt, ist diese zugleich in vielerlei Hinsicht überholt und überwunden. Aus Sicht der Kritischen Theorie ist die Emanzipation der Frauen für die Erwerbsarbeit dabei allerdings nur ein halber Schritt. Adorno und Horkheimer hielten diese gar für die „bloße Imitation des patriarchalen Prinzips“ (23). Eine echte Emanzipation der Familie, so deutete sich bei ihnen bereits an, bedürfte „einer Emanzipation nicht nur der Frauen, sondern der Geschlechter, die mit den bisherigen Konzepten von ‚Weiblichkeit‘ und ‚Männlichkeit‘ brechen“ (24). Eine „Familie aus Freiheit“ sei jedenfalls nur in einer freien Welt zu verwirklichen. (25) Ohne einen Umbau der gesamtgesellschaftlichen Bedingungen bleibt die Familie laut der Kritischen Theorie darum ein widersprüchliches Gebilde: Ort der Unterdrückung und Ort der Befreiung.

Und wenn die fünfte Kerze brennt …!

Bevor der ganze Adventskranz jetzt in Flammen aufgeht, fasse ich lieber noch einmal kurz zusammen: Wir können die Familie verstehen als eine Art Reproduktionsgemeinschaft und zwar im biologischen und gesellschaftlichen Sinne. Sie ist zugleich egoistisch auf sich selbst bezogen und dient doch zugleich ganz anderem als dem Eigenen. Schaut man genauer hin und wundert sich über die Rollen, die innerhalb der Familie existieren, so ist man hin- und hergerissen zwischen dem Eindruck, es handle sich um Auswüchse moderner Individualität und der Aufführung eines alt bekannten Stückes. Man tut vielleicht gut daran, in der Familie eine Art Improvisationstheater zu erblicken, das Rollen und Texte zwar auf Zuruf hervorbringt, sich dabei aber oft genug auf das Gegebene verlassen kann. Wie alt die Familie als kleine Familie ist, überrascht. Vom Mythos der Großfamilie haben die meisten wohl noch nie gehört und es fragt sich auch, was damit eigentlich mystifiziert werden soll. Am ehesten wohl die Tatsache, wie tief die Kleinfamilie als Institution in der abendländischen Geschichte verankert ist und wie lange Menschen sich bereits mit ihrer Zähmung, Modernisierung und Öffnung abmühen. Die Beschreibung der Familie als Ort von Unterdrückung und Befreiung schließlich, zu der die Kritische Theorie gefunden hat, gilt noch heute und erinnert daran, dass wir es bei der Familie mit einem irreduzibel widersprüchlichen Gebilde zu tun haben.

Was wir in der letzten Adventszeit langsam nahen und heller strahlen sahen, war also so ziemlich das Gegenteil von Kitsch. Folgt man den adventlichen Reimen meiner Kindheit, so darf man nicht warten, bis die fünfte Kerze brennt. Wer will, kann in dem unschuldigen Verslein die unverhohlene Warnung lesen, es mit der Kritik an der Familie nicht zu übertreiben. Nicht, dass man die Lust daran verliert …

Anmerkungen:

(1) Es entsteht bisweilen der verkürzte Eindruck, dass die Reproduktionsarbeit die unmittelbar auf die Gesellschaft bezogene, verschwiegene Gegenseite zur wirtschaftlichen Produktivität darstellt. Es scheint mir jedoch exakter darauf hinzuweisen, dass die Reproduktionsarbeit der Familie zunächst der Reproduktion der Familie selbst dient und erst mittelbar der Gesellschaft. Mit dieser Präzisierung soll gleichwohl der diskriminierenden Wirkung, die aus der bürgerlichen Arbeitsteilung und der Nichtbezahlung vieler reproduktiver Tätigkeiten hervorgeht, nicht widersprochen werden. Trotz der seit Jahrzehnten formulierten scharfen Kritik an unbezahlter Familienarbeit konzentriert sich der feministische Mainstream heute vielfach eher auf die Gleichstellung der Frau im Arbeitsumfeld. Das hat allerdings dazu geführt, dass man unbezahlte Tätigkeiten zwar rhetorisch stark kritisiert, konkrete politische Forderungen hingegen selten bleiben und bisweilen gar die teilweise Anerkennung von Reproduktionsarbeit als unfeministische Unterstützung klassischer Arbeitsteilung angesehen wird. In diesem Zusammenhang scheint mir eine Intervention Nancy Frasers interessant, die feministische Kritik an unbezahlter Familienarbeit als Teil der Arbeiter:innen-Bewegung verstehen will und damit in einen größeren Kampf gegen sog. „unfreie“ bzw. „enteignete“ Arbeit einbezieht. (DIE ZEIT, 2022)

(2) Urie Bronfenbrenner hat über Jahrzehnte eine Theorie entwickelt, die die Entwicklung des Menschen innerhalb eines multisystemischen, ökologischen Ansatzes beschreibt und die wechselseitigen Einflüsse zwischen Individuum und den umfassenderen Systemen ernst nimmt. Die Familie spielt hierbei als sog. Mikrosystem eine zentrale Rolle in diesen Vermittlungsprozessen. Vgl. hierzu etwa folgendes Zitat: „Although Bronfenbrenner described it as a theory of human development, from the start the developing individual was consistently viewed as influencing, and being influenced by, the environment. The family thus plays a key role: it does so as a microsystem context in which development occurs; it does so in terms of the personal characteristics of all individuals in the family; and most important, it does so in terms of the interactions among family members as part of proximal processes.“ (Rosa et al., S. 243)

(3) vgl. Ecarius, S. 21

(4) In der Familiensoziologie fallen etwa unter das Konzept der sog. „sozialen Vererbung“ Aspekte wie der sozioökonomische Status, Verhaltensweisen (darunter der Erziehungsstil) und Werteorientierungen. Für all diese Aspekte sind klare Vererbungseffekte nachgewiesen, ihre Ursachen verteilen sich auf eine komplexe Interaktion aus genetischen und umweltbedingten Faktoren und der direkten Sozialisation von Kindern in der Familie. (vgl. Joas et al., Kap. 13.3.2) In diesem Kontext ist auch die erweiterte, mehrdimensionale Vererbungstheorie von Jablonka/Lamb (2017) von Interesse, welche zwischen vier Dimensionen von Vererbung unterscheidet: genetische, epigenetische, Verhaltens- und symbolische Dimension.

(5) vgl. Joas et. al., Kap. 13.3.1

(6) ebd.

(7) So kann der „rational choice“ – Ansatz etwa Aspekte der Partnerwahl, der späteren Kinderzeugung oder den Rückgang von Geburten sehr gut erklären. Ein entscheidender Aspekt in dieser Theorie ist die Einbeziehung der elterlichen „Opportunitätskosten“. Durch die Aufzucht von Kindern kommt es demzufolge zu verpassten Gelegenheiten, Genüssen und Freiheitseinbußen und der Entwertung von Bildungsabschlüssen. Frauen sind von den Opportunitätskosten bis heute meist stärker betroffen. Im Sinne dieses Paradigmas ist auch zu erklären, warum wir heute u.a. eine soziologische Polarisierung zwischen Kinderlosen und Familien mit mehreren Kindern erleben.

(8) vgl. Kopp et. al., S. 223

(9) vgl. Peuckert, S. 260.

(10) vgl. hierzu den lesenswerten Artikel zum Väterreport auf zeit.de vom 12. September 2023. Link: https://www.zeit.de/zeit-magazin/familie/2023-09/vaeterreport-kinderbetreuung-erziehung-progressive-eltern

(11) vgl. Funke et. al., S. 124

(12) Die sog. Übergangsforschung ist innerhalb der feministischen Forschung ein wichtiges Thema. Vgl. etwa Barbara Friebertshäuser: „Verglichen mit archaischen Kulturen, die in ausgearbeiteten und tradierten Initiationszeremonien den Übergang des Mädchens zur Frau und des Jungen zum Mann kulturell organisieren, institutionell absichern und festlich begleiten, sind heutige Initiationsrituale nur noch in rudimentärer Form als solche erkennbar, säkularisiert, kulturell verarmt und vieler ihrer Funktionen entkleidet. Zugleich deutet vieles darauf hin, daß der Wunsch nach Einführung oder Initiation – gerade bei Jugendlichen – existiert und sie auf der Suche nach Initiationsäquivalenten sind. Wenn auch archaische Initiationsrituale mit ihren tradierten Vorgaben kein Modell für die Moderne sein können, so machen uns die dortigen Praxen dennoch aufmerksam auf die menschlichen Entwicklungsaufgaben im Kontext von Statuspassagen, die dort nicht zufällig zur Angelegenheit der gesamten Gemeinschaft gemacht worden sind. Statuspassagen markieren Veränderungen im Leben der einzelnen und können auch Wandlungsprozesse der Gesellschaft bewirken. Diese Chance bleibt gegenwärtig allerdings dann ungenutzt, wenn weitgehend kommerzielle Anbieterinnen, anonyme Ratgeberinnen und Medieneinflüsse die Lücke einer nicht mehr institutionell gesicherten Initiation in den Erwachsenenstatus füllen, und dies zu einer Verstärkung traditioneller Geschlechtsrollenbilder bei Mädchen und Jungen führt. Die Chancen zur Erneuerung, die Übergangsphasen potentiell in sich tragen, werden so nicht genutzt, um Gegenbilder zu entwickeln, zu erproben und zu leben. In dieser Hinsicht kommt möglicherweise der feministischen Mädchenarbeit und der kritischen Jungenarbeit in der Begleitung der weiblichen und männlichen Statuspassagen von Jugendlichen eine wichtige Initiationsfunktion zu.“ (vgl. Friebertshäuser, S. 67)

(13) Vgl. hierzu: „Mittlerweile wissen wir, nicht zuletzt dank der historischen Demografieforschung der 1960er Jahre (…), dass die Realität der sogenannten „erweiterten Familie“ gar nicht so groß gewesen ist, weshalb in der Familienwissenschaft in diesem Zusammenhang auch vom „Mythos der vorindustriellen Großfamilie“ die Rede ist. Großfamilien sind eher ein Phänomen des 19. Jahrhunderts, in dem, bedingt durch Bevölkerungswachstum, bessere Lebensbedingungen und die Modernisierung der Landwirtschaft, erstmals größere Sozialverbände entstehen konnten. Auf dem Land stieg der Prozentsatz der „Ausgedingefamilie“ […], und in der Stadt mehrten sich Familienformen mit Großeltern bzw Großelternteilen. Die Familienforschung nach dem Zweiten Weltkrieg hat diese Mehrgenerationenfamilien allerdings nicht als modernes Phänomen gedeutet. Vielmehr betrachtete man diese komplexeren Haushaltsstrukturen als eine Erscheinung, die Reste vergangener Zeiten sind, in der die Großfamilie die dominante Lebensform gewesen sei.“ (Funke et al., S. 27 f.)

(14) „Der Wirkungsbereich der straff gleichsam um den Vater herum organisierten römischen familia war wesentlich größer als der des griechischen oikos. Alle Sklaven blieben auch nach ihrer Freilassung unter der weiterhin bis zum ius vitae ac necis reichenden Züchtigungs- und Strafgewalt ihres früheren Herrn (patronus), schuldeten ihm nach Herkommen (mos maiorum) und Recht Ehrerbietung und Gehorsam und waren auch zu bestimmten Leistungen verpflichtet, beispielsweise zu einer festgelegten Zahl von Tagewerken (operae). Umgekehrt bestand die Fürsorgepflicht des Herrn auch gegenüber den Freigelassenen fort, deren Anzahl in vielen Fällen groß war.“ (Fusco, S. 14); „Im Übergang von der Republik zum Prinzipat änderte sich jedoch die Stellung des pater familias. Der sozioökonomische und politische Wandel hatte eine Schwächung der väterlichen Gewalt und damit eine Lockerung der straffen Familienstruktur zur Folge.“ (ebd., S. 16)

(15) „Die absolut untergeordnete Stellung der Frau besserte sich durch zweierlei erheblich. Zum einen nahm die sog. »gewaltfreie« Ehe, d. h. eine Ehe, ohne daß die Frau in die Gewaltsphäre ihres Mannes Übertritt, immer mehr zu. Zum anderen wurde die Praxis der Geschlechtervormundschaft (für die Frau, die keiner anderen Familiengewalt unterworfen ist, wird ein Vormund bestellt) im Prinzipat durch mehrere Maßnahmen in ihrer Bedeutung stark eingeschränkt, beispielsweise indem die Frau sich selbst einen »Strohmann« als Vormund aussuchen konnte.“ (ebd., S. 16)

(16) Arme Bauern waren bpsw. in Süddeutschland bis 1871 von der Ehe ausgeschlossen, sodass „neben legalen Familien eine Vielzahl von nicht-legitimierten Familien“ (Ecarius, S. 29) existierten.

(17) „Während man in Ost- und Südosteuropa, im Mittelmeerraum und in außereuropäischen Regionen in größeren Familienverbänden zusammenlebte, trugen in West- und Mitteleuropa verschiedenen Faktoren, die wir bereits weiter oben genannt haben, zur Herausbildung der Kernfamilie bzw. zur Entstehung der gattenzentrierten Familienform bei.“ (Funke et al., S. 45) – „Im Unterschied zu Osteuropa und auch zum Mittelmeerraum mit seiner mediterranen Klimazone konnten sich in West- und Mitteleuropa auf der Grundlage von „agrartechnischen Neuerungen“ (Mitterauer 2003, S. 328) wie die „Dreifelderwirtschaft, der Beetpflug, das Ackerpferd mit Hufeisen und Zuggeschirr, die Grasmähsense, der Ackerwagen, der Dreschflegel und die Wassermühle“ (ebd.) eine familiale Arbeitsorganisationen herausbilden, die keine rigide geschlechtsspezifische Arbeitsteilung befördert haben, sondern eine Zusammenarbeit von Mann und Frau.“ (ebd., S. 52)

(18) „Die Beschreibung der bäuerlichen Arbeitsformen in West- und Mitteleuropa als gattenzentriert (…) ist allerdings nicht zu verwechseln mit partnerschaftlich. Während der Bauer die Leitungsbefugnis bei den gemeinsam auf Feldern und Wiesen verrichteten Arbeiten hatte, so besaß die Bäuerin die Leitungsbefugnis im Haus. Die Vertretung der Hausgemeinschaft, die wir uns als eine Einheit von Arbeits-, Produktions-, Konsum- und Lebensgemeinschaft vorzustellen haben, lag nach außen im Verantwortungsbereich des Bauern.“ (ebd., 54)

(19) „Zwar gründet die bürgerliche Ehe mehr und mehr auf Liebe und emotionale Nähe wie sie die Romantik proklamierte, jedoch bilden sich strenge Rollenzuweisungen heraus: Von einer Gleichwertigkeit oder gar Gleichberechtigung kann in der Realität der bürgerlichen Familie nicht gesprochen werden.“ (Wawrzynek, 3.2)

(20) vgl. Umrath, S. 123

(21) „Allerdings geht es dem Institut dabei nicht so sehr darum, Sozialisationsprozesse möglichst umfassend zu beschreiben, sondern herrschaftskritisch diejenigen Momente zu identifizieren, welche die bürgerlich-patriarchale Familie zu einem zentralen Ort für die Produktion autoritärer Charaktere machen und zugleich befreiungstheoretisch zu fragen, inwiefern selbst diese Familienkonstellation anti-autoritäres Potential birgt.“ (Umrath, S. 124)

(22) „Geißler (2006) sieht in der zunehmenden „Entlegitimisierung“ der Ungleichheit zwischen Frauen und Männern eine Illustration des „Tocqueville-Paradox“: mit dem Abbau sozialer Ungleichheiten erhöht sich gleichzeitig die Sensibilität gegenüber den verbliebenen Ungleichheiten.“ (Peuckert, S. 260)

(23) Umrath, S. 128

(24) ebd.

(25) ebd.

Literaturangaben:

Jutta Ecarius: „Handbuch Familie“, 1. Auflage, VS Verlag für Sozialwissenschaften (2007)

Barbara Friebertshäuser: „Initiationsriten und ihre Bedeutung für weibliche und männliche Statuspassagen“, in: Feministische Studien 1/95

Dorett Funke/Bruno Hildenbrand (Hg.): „Ursprünge und Kontinuität der Kernfamilie. Einführung in die Familiensoziologie“, 1 Auflage,‎ Springer VS (2018)

Sandro-Angelo Fusco: „Familie und Erziehung in der römischen Antike“, in: Heinz Reif & Gerhard Dohrn-van Rossum: „Die Familie in der Geschichte“, Vandenhoeck u. Ruprecht (1982), S. 10-27

Eva Jablonka & Marion J. Lamb: „Evolution in vier Dimensionen: Wie Genetik, Epigenetik, Verhalten und Symbole die Geschichte des Lebens prägen“, 1. Auflage, ‎ Hirzel, S., Verlag (2017)

Hans Joas & Steffen Mau: „Lehrbuch der Soziologie“, 4. vollständig überarbeitete Auflage, Campus Verlag (2020)

Johannes Kopp & Paul Bernhard Hill: „Handbuch Familiensoziologie“, 1. Auflage, Springer VS (2015)

Nils Markwardt: „Der Kapitalismus kannibalisiert seine eigenen Grundlagen“, Interview mit Nancy Fraser, DIE ZEIT, 14. Mai 2022. Link: https://www.zeit.de/kultur/2022-05/nancy-fraser-kapitalismus-feminismus-rassismus/komplettansicht

Rüdiger Peuckert: „Familienformen im sozialen Wandel“, 7. vollständig überarbeitete Auflage, Wiesbaden: VS Verl. für Sozialwissenschaften (2008)

Edinete Maria Rosa & Jonathan Tudge: „Urie Bronfenbrenner’s Theory of Human Development: Its Evolution From Ecology to Bioecology“, Journal of Family Theory & Review 5 (Dezember 2013), S. 243-258

Michael Mitterauer: „Warum Europa? Mittelalterliche Grundlagen eines Sonderwegs“, C.H. Beck Verlag (2003)

Barbara Umrath: „Zur Konvergenz und Diskrepanz zwischen feministischen Perspektiven und der Kritischen Theorie.“, S. 119ff., in: associazione delle talpe/Rosa Luxemburg Initiative Bremen (Hrsg.): „Maulwurfsarbeit III“, PAPERS 8/2015

Aneta Wawrzynek: „Sozialgeschichte der Familie: Entstehung und Entwicklung der modernen Kleinfamilie als Leitbild der Moderne“, Examensarbeit (2004)

Bildnachweis: Abstract Family“ von Rob Lee ist lizensiert unter CC BY-ND 2.0.

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