Gutherzige Eliten

Dass ich beim Einlass zu einem Vortrag über Kants Zeit-Verständnis mal einen kleinen Tumult erleben würde, hätte ich mir nicht träumen lassen. Am letzten Samstag ist es passiert, beim Besuch des diesjährigen Salon Sophie Charlotte.

Die Berlin-Brandenburgische Akademie hat ihre Räume wieder geöffnet. Der Salon Sophie Charlotte findet jeden dritten Samstag im Januar statt. Das Mitbringen von großem Gepäck ist bei der Veranstaltung nicht erwünscht. Kein Wunder, wartet der Salon doch selbst mit sechs vollgepackten Stunden auf fünf Stockwerken in zahlreichen kleinen und großen Konferenzräumen auf. Das Jahresthema lautet: Zeit. Ich war dort zum ersten Mal Gast und habe mir mein eigenes lineares Programm aus der großen Gleichzeitigkeit herausgefiltert.

Auf dem Weg zur Akademie muss ich einen kleinen Umweg laufen. Am Gendarmenmarkt ist immer noch Großbaustelle. Für über 20 Millionen Euro wird dort unter anderem ein nachhaltiges System zum Regenwassermanagement installiert. Das Projekt dauert auch darum mehrere Jahre, weil der Boden unter dem Platz zuerst gründlich auf Munition aus dem Zweiten Weltkrieg abgesucht werden muss. Die Zeit, sie heilt nicht alle Wunden, denke ich.

Als ich gegen 18 Uhr das lila erleuchtete Gebäude betrete, merke ich bald, dass die Veranstaltung ein paar Nummern größer und schicker ist als ich das erwartet hatte. Underdressed, aber herrlich unsichtbar, da ohne drohende Bekanntschaften, wage ich mich dennoch in das beeindruckende Ambiente. Dass ich darüber später einen Erfahrungsbericht schreiben würde, hätte ich nicht gedacht, und jetzt, wo ich dabei bin, scheint mir, es könnte auch – aus Versehen – ein heimliches Selbstporträt werden.

Ich irre also erst einmal durch Nebengänge, verkrieche mich kurz auf der Toilette, um dem Sozialstress kurz die lange Nase zeigen zu können (ohne mir etwas durch dieselbige zu ziehen), lasse die Garderobe rechts liegen, an der fleißig angestanden wird, und ergebe mich ganz dem Schicksal der sozialen Codes, die hier wohl herrschen mögen.

Endlich finde ich mich zurecht und lande im „gut gefüllten“ (aka. berstend vollen) Leibniz-Saal, wo Christoph Markschies, Präsident der Akademie, sich humorig bei der langen Liste an Förderern bedankt, indem er ihre Namen fast so schnell wie Eminem herunter rappt. Der einzige Diss des Abends geht heute gegen die Feinde der Demokratie, an deren Bedrohung im Leibniz-Saal nicht zuletzt die Einschusslöcher in den Säulen des historischen Kassensaals der Preußischen Staatsbank erinnern.

Während des ersten Impulsvortrags an diesem Abend überrascht die Evolutionsbiologin Hanna Kokko mit der Information, dass der Zeitabstand zwischen dem Auftreten des Stegosaurus und des T. Rex größer ist als der zwischen T. Rex und Mensch. Es gibt viele weitere Beispiele, die zeigen, wie schlecht wir darin sind, in großen Zeiträumen die Orientierung zu behalten. Das zeigt sich auch in den Forschungen zur Corona-Pandemie. Barbara Prainsack verwies im Verlaufe des Abends auf Studien, die belegen, dass sich das Zeitempfinden während der Pandemie deutlich verlangsamt hat (1). Im heutigen Rückblick haben Menschen nachweislich Probleme, Ereignisse in der Pandemie zeitlich richtig zuzuordnen. Nichts belegt wohl besser, wie relativ unser Zeitempfinden ist, und wie stark es durch gesellschaftliche Rahmenbedingungen geprägt wird.

Aber ich verlasse bereits die lineare Zeitspur, zu früh, wie mir scheint, denn es ist erst 19 Uhr. Weil ich bei der Begrüßung ganz hinten stehe, habe ich das Glück, die Bergpredigt einmal in der Praxis zu erleben: Die letzten werden die ersten sein. So finde ich mich rechtzeitig genug im Konferenzraum ein, wo Dina Emundts und Tobias Rosefeldt den Gäst:innen etwas über Kants Zeitverständnis nahebringen wollen. Womit nicht zu rechnen war, ist der harte Einlass. Einige ältere Herren ignorieren die Anweisungen der Platzanweiser, schütteln den Kopf, grimassieren und murmeln etwas über die weite Anreise. Dann aber wird der kleine Raum wegen Überfüllung geschlossen. Von draußen höre ich deutlich das Rumoren der Zurückgebliebenen, die nun keine Möglichkeit mehr haben zu verstehen, warum die Zeit laut Kant eine Form der Anschauung ist. Drinnen schildert Tobias Rosefeldt eine Kindheitserinnerung. Wieder und wieder fuhr er mit dem Finger über eine Schrankwand und hier, so will es die Legende, muss ihm der Gedanke gekommen sein, dass sein Finger zu einem bestimmten Zeitpunkt doch an einem ganz bestimmten Ort gewesen sein muss.

Denkt man diesen Gedanken, bei dem ihm sein bayrischer Onkel, ja mei, damals nicht so recht folgen mochte, weiter, landet man sinngemäß bei einer der klassischen Paradoxien des Zenon. Stellt man sich die Zeit nämlich wirklich so vor, als ob sie sich in einzelne („distinkte“) Punkte aufteilen ließe und treibt man diese Zerkleinerung der Zeitschnipsel immer weiter, so landet man nicht etwa bei Zeitkonfetti, sondern unendlich vielen Zeitpunkten, die doch wohl in endlicher Zeit nicht zu durchschreiten sein dürften. Aber, der Finger fährt die Schrankwand lang und das Universum implodiert nicht ob dieser Tatsache. Also muss etwas faul sein an dieser Zeitvorstellung. Kant sieht in den Paradoxien der Zeit klare Belege, dass die Zeit nicht einfach in der Welt ist, sondern von uns, vor aller Erfahrung, a priori, an die Gegenstände herangetragen wird. Die empirische Zeit ist insofern nicht verständlich ohne Rückbindung an die transzendentale Zeit, die, wie gesagt, vor aller Physik zugrunde gelegt werden müsse. Als die kleine Einführung in das komplexe Thema beendet ist, melden sich – wer hätte es gedacht – die Physiker zu Wort. Der eine Physiker sieht sich in seinen astronomischen Theoremen über die Zeit von Kant ganz herrlich bestätigt, der andere Physiker hält eben seine komplexitätstheoretischen Theoreme über die Zeit für recht unvereinbar mit Kants Anschauung. Zeit ist eine bloße Illusion, heißt es hier. Zeit ist ein emergentes Phänomen, heißt es da. Während die Physikprofessoren ihre als Fragen getarnten Kurzvorträge halten, denke ich wieder an jene, die es nicht mehr in den Raum geschafft haben …

Weiter, immer weiter, Treppe um Treppe, fast hätte ich ihn nicht gefunden, den Einstein-Saal im 5. OG. Ein Sinologe und ein Soziologe sprechen über die Bedeutung von Ritualen für unser Zeitverständnis. Barbara Stollberg-Rilinger versucht, die Herren beim Thema zu halten, was sich als nicht immer einfach herausstellt. Sehr eindrücklich schildert Michael Lackner, wie der chinesische Kaiser zum Neujahrsfest durch eine penibel festgelegte Zeremonie den Gang der Zeit selbst am Laufen halten musste. Jede kleinste Abweichung von dem heiligen Ritual war ein schlechtes Omen. Aber, hierauf weist Hans-Georg Soeffner hin, auch in der Moderne braucht der Mensch mehr als nur Routinen. Rituale helfen nicht nur, uns in der Zeit zu orientieren, zugleich orientieren wir uns damit auch in der Gesellschaft. Das Ritual ordnet und es bindet das Profane ans Heilige zurück. Dass sich Spuren dieser Verbindung bis in die Alltagsroutinen finden lassen und die Grenzen hier fließend sind, glaube ich. Aber ist es nicht sogar so, dass wir auch heute noch, trotz aller Wissenschaftlichkeit, die Zeit am Laufen zu halten glauben, wie die alten Ägypter mit ihren Sternenbeobachtungen und ihren Ritualen zur Gewährleistung der ewigen Wiederkehr? (2)

Die Nachbesprechung der Corona-Pandemie, die anschließend im Wissenschaftsforum stattfindet, zeigt eindrücklich, wie sehr wir als Gesellschaft darauf angewiesen sind, Zäsuren und Krisen einzuordnen und sie damit, immer auch, ein wenig zu zähmen. Ganz entscheiden können sich Patrick Cramer, Viola Priesemann und Barbara Prainsack nicht, mit welchen gemischten Gefühlen sie zurückblicken sollen. Die Gesprächsrunde ist, erinnert man sich an die kakophone Deutungshoheit der Berichterstattung, eine Wohltat. Wissenschaftler:innen können hier als das sprechen, was sie sind, und sie genießen es sichtlich. Überraschend, wie konziliant im Ton, doch klar in der Sache die Kritik an der Politik ausfällt: Die fehlende Bereitschaft, aus Krisen nachhaltig zu lernen, wird hier zurecht kritisiert. Dabei, so betont Prainsack mehrfach, gibt es eine Schlüsseleinsicht, mit der Gesellschaften robuster gegen Gesundheitskrisen gewappnet sein können: die Verringerung von materieller Ungleichheit und Armut. In der Politik seien solche wissenschaftlichen Empfehlungen, die man im Grunde auch vor Corona schon kannte, sich in der Pandemie aber dramatisch bestätigt haben, jedoch „nicht opportun“.

Auch die Medien, mit löblichen Ausnahmen, kommen nach Ansicht der Wissenschaftler:innen nicht so gut weg. Auffällig: Anja Martini, Moderatorin des Plenums und Journalistin beim NDR, widerspricht nicht. Zu oft, so heißt es auf dem Plenum, hätten Politikjournalist:innen den gleichen Fehler gemacht und sich ausgehend von einem argumentativen Ziel für Maßnahme x, y oder z ihre wissenschaftlichen Fakten zusammengesucht und dabei oft auf überholte Daten zurückgegriffen oder diese einseitig dem Argumentationsziel zugeführt. Welche Lehren ziehen die Wissenschaftler:innen auf dem Podium? Vor allem ist es ein schmetterndes Plädoyer für die Grundlagen- und die Nischenforschung. Wir wissen nicht, woher die nächste Krise kommt. Die beste Vorbereitung hierauf ist eine breite Expertise und die Möglichkeit, sich in der Wissenschaft interdisziplinär und ohne Umstände auszutauschen und gegenseitig zu helfen. Die Rückkehr zur Normalität, in so vielerlei Hinsicht ein Segen, heißt für die Wissenschaftler:innen wie Priesemann leider auch Rückkehr zu einer eher träge wirkenden Form von Interdisziplinarität.

Ich lasse den Abend utopisch ausklingen. Ilja Trojanow stellt ursympathisch sein neues Buch „Tausend und ein Morgen“ vor (erschienen im August 2023 bei S. Fischer). Jede Utopie (Nicht-Ort), bemerkt Trojanow früh, ist auch eine Uchronie (Un-Zeit). Ich nicke. Aus einer fernen Zukunft brechen Zeitreisende in die Vergangenheit auf, um den Gang der Geschichte zum Besseren zu ändern. Das stellt sich gleichwohl als schwieriger heraus als gedacht. Die Zeitreisenden haben große Probleme, sich an ihre jeweiligen Raumzeit- Ziele anzupassen und dort einzufinden. Wie gutherzige Ethnolog:innen aus der Zukunft, die – anders als Wittgenstein für die Sprache forderte – nicht nur beobachten, sondern auch eingreifen wollen, auf Abwege geraten und dabei wohl nicht so sehr an Raum und Zeit als vielmehr auch an sich selbst zu scheitern drohen, davon geben Lesung und Gespräch einen lebhaften Eindruck. So ist diese Utopie eben nicht frei von dystopischen Elementen, auch wenn die Hoffnung in Trojanows Roman am Ende und gegen den Zeitgeist leicht überwiegt.

Nach fünf Stunden bin ich dann aber durch mit der Zeit. Kein Vortrag ohne die entsprechenden Kalauer mit dem Wort „Zeit“. Der verdrängte Star des Abends insofern Stefan Raab: „Wir haben doch keine Zeit.“ Doch die gutherzigen Eliten, wie ich sie an diesem Abend aus einer nur halbwegs selbstbestimmten Distanz beobachtete, scheinen mir jetzt wie Figuren aus Trojanows Roman zu sein. Nichts belegt den Wert und die Problematik einer autonomen Wissenschaft so sehr wie ein solcher Abend. Meine eigene Rolle in dem Ganzen bleibt mir notorisch unklar. Indem wir die anderen als andere beobachten, erleben wir immer auch uns selbst als diese anderen. Ich, der Alien, in gutherziger Gesellschaft, lasse die sozialen Codes, die einschüchternde Wirkung der schicken Kleider und teuren Anzüge hinter mir, und begebe mich bald in die Ubahn, auf meine eigene Distinguiertheit zurasend, in der gewohnten Beinahe-Zeitlosigkeit, mit der man am späten Berliner Samstag Abend in vollen Waggons durch dunkle Röhren geschossen wird, immerzu auf der Suche nach der großen Party, in einer Stimmung aus Aufbruch und Melancholie.

Hinweis

Viele der Vorträge des Abends lassen sich im Laufe der nächsten Wochen in der Mediathek des BBAW als Videoaufzeichnungen nachsehen: https://www.bbaw.de/mediathek

Anmerkungen

(1) Kosak F, Schelhorn I, Wittmann M (2022) The subjective experience of time during the pandemic in Germany: The big slowdown. PLoS ONE 17(5): e0267709. https://doi.org/10.1371/journal.pone.0267709

(2) „Die Erneuerungszeit [Neheh] ist zyklisch und arbeitet durch Ritualisierung gegen das Lineare, Irreversible an, die Erinnerungszeit [Djet] ist räumlich und arbeitet im Medium der Monumente und ihrer streng kanonisierten Formensprache ebenfalls gegen das Irreversible, gegen Veränderung, Verschwinden und Vergessen an.“ (Jan Assmann: „Zeitkonstruktion, Vergangenheitsbezug und Geschichtsbewusstein im alten Ägypten“, in: Assmann & Müller (Hg.): „Der Ursprung der Geschichte“, Stuttgart 2005, S. 112-214)

Bildnachweis:

Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften indoor“ von PPEscientist ist lizenziert unter CC BY-SA 4.0.

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