Kein Bock auf Weltuntergang – Plädoyer für eine hedonistische Klimapolitik

Meine Tochter schneidet dickes Tonpapier in kleine Fetzen, wirft ihr selbst gebasteltes Konfetti freudestrahlend in die Luft und ruft „Geburtstag!“ Argwöhnisch nehme ich die Verschwendung des guten Tonpapiers zur Kenntnis, sage aber: „Kannst du alles machen, musst du aber später auch aufheben.“ Jaja, antwortet sie … Auch wenn sie es sich jetzt kaum anmerken lässt, bin ich natürlich der Spaßverderber, der sie aus dem Moment gerissen und an das erinnert hat, was nach dem Spaß kommt. Aufräumen, bäh.

Aber, könnte ich vor mich hinsagen, sie muss es doch lernen. Das mit dem Aufräumen, das mit den Folgen des eigenen Handelns. Und das mit der Verschwendung. Das alles mache ich jetzt aber lieber nicht. Denn so ein Appell redet vermeintlich von der Zukunft, in Wirklichkeit erzeugt er hier und jetzt Gefühle, der Reue, der Unlust. Die vermeintliche Nutzlosigkeit der kleinen Tonpapier-Party, in Gedanken an das später, später, führt sogar regelrecht ein Kalkül ein, das den Moment vor dem Hintergrund der Zukunft einsortiert und damit entwertet. Alles, was jetzt Freude macht, lässt sich leicht als aufzuwiegen denken mit irgendeiner folgenden Unlust. Da könnte man es ja gleich bleiben lassen …

Diese vernünftig anmutende Art zu reden und zu denken hat in der politischen Kommunikation zuletzt deutlich an Raum gewonnen. Man möchte damit Handlungsbedarf signalisieren. Der Grundgedanke hat es gar in die Urteile des Bundesverfassungsgerichts geschafft. Einem vielfach kommentierten Urteil von 2021 geht es darum, die heutigen Regierungen anzuhalten, mit den Ressourcen – konkreter: den CO2-Emissionen – zukunftsgerecht umzugehen. So weit, so gut. Die Politik habe die Pflicht so zu handeln, dass die Voraussetzungen einer freien Gesellschaft auch in Zukunft gegeben sein werden. Im Urteil heißt es: „Das Grundgesetz verpflichtet unter bestimmten Voraussetzungen zur Sicherung grundrechtsgeschützter Freiheit über die Zeit und zur verhältnismäßigen Verteilung von Freiheitschancen über die Generationen.“ (1)

Das alles klingt vernünftig und erinnert an die Ratschläge vorausschauender Eltern an ihre Kinder, die noch nicht gelernt haben an morgen zu denken. Und wer möchte nicht an die Zukunft denken? Wer fände es gut, gegenüber der Zukunft ungerecht zu handeln? Ihr die Freiheit zu rauben? Die Rechte zukünftiger Generationen zur Grundlage politischer Entscheidungen zu machen, klingt also nach einem richtig guten Vorschlag – und so ist er medial auch vielfach aufgenommen worden. Die Nachwelt als politische Kategorie eingeführt zu haben, gilt als Meilenstein. An diesem Urteil komme in Zukunft niemand mehr vorbei, heißt es, auch wenn die Begründung kreativ und die konkreten Folgen überschaubar seien. (2). Das Bundesverfassungsgericht habe die Freiheit befreit, denn Freiheit werde nun als ein materielles Gut verstanden, das man „verbrauchen“ könne (3).

Wow, denke ich. Angesichts so viel guter Argumente, scheint es vermessen, die dahinter stehende Überlegung in Frage zu stellen. Und doch, ich habe Zweifel an dieser Konstruktion.

Stutzig werde ich erstmals, als Hannah Arendt in einem wissenschaftlichen Aufsatz als Vordenkerin dieses Politikverständnisses genannt wird. „Intertemporale Gerechtigkeit“, heißt es, sei in ihrem Denken der „Nachwelt“ bereits angedacht. (4) Das wundert mich und ich hole den Band mit ihrem Hauptwerk „Vita activa oder Vom tätigen Leben“ aus dem Regal. Hannah Arendt führt darin (eher beiläufig) den Begriff der „Nachwelt“ ein, als sie die berühmte Gefallenen-Rede des Perikles erwähnt. Perikles ermutigt die Athener Bürger nach dem ersten von noch folgenden 25 Kriegsjahren im Kampf des Attischen Seebundes gegen den von Sparta angeführten Peleponnesischen Bund. Der Tod der Soldaten soll nicht umsonst gewesen sein, denn „gemeinsam gaben sie ihre Leiber hin und empfingen dafür jeder den nicht alternden Lobpreis und ein weithin leuchtendes Grab, nicht das, worin sie liegen, meine ich, sondern dass ihr Ruhm bei jedem sich gebenden Anlass zu Rede oder Tat unvergessen nachlebt.“ (5) Die Hoffnung auf die Fortdauer der attischen Polis ist hier das Motiv, sich für die Gemeinschaft aufzuopfern. Die Nachwelt taucht als das Versprechen auf, der Opfer und Heldentaten der Ahnen zu gedenken. Hannah Arendt nimmt die berühmte Rede als Beispiel für den Glauben der Athener an die Unvergänglichkeit ihres politischen Gemeinwesens. In diesem Glauben an die Dauer der Polis handeln sie in der Gegenwart ruhmreich.

Das ist für eine Kriegsrede, die zum Durchhalten appellieren soll, eine nachvollziehbare Form der Ermutigung. Absurd ist es aber, hieraus so etwas wie die Idee „intertemporaler Gerechtigkeit“ abzuleiten oder zu unterstellen, Hannah Arendt habe die Rede derart verstanden. Im Gegenteil! Ihr geht es um den Glauben an die Fortdauer der „Welt“ als Ort politischen Handelns. Sie schreibt: „die Polis wird dafür sorgen, dass das Erstaunen der Mitwelt in der Nachwelt nicht erstirbt, dass also die Nachwelt, zwar nicht für die sterblichen Menschen selbst, aber für das, was an ihnen wert war, unsterblich zu werden, eine Mitwelt bleibt.“ (6) Das ist etwas kompliziert formuliert, aber durchaus plausibel. Von den Ansprüchen zukünftiger Generationen ist hier allerdings nicht die Rede.

Was mit den Menschen passiert, wenn sie an die Stelle der Welt das Leben stellen, schildert Hannah Arendt eindrücklich im letzten Kapitel von „Vita activa“. An die Stelle „der potentiellen Unvergänglichkeit des politischen Gemeinwesens des Altertums“ trete dann „das Leben selbst, und zwar der potentiell unvergängliche Lebensprozeß des Menschengeschlechts“. (7) Die modernen utilitaristischen und vitalistischen Vorstellungen aber sind Arendt zufolge entscheidende Faktoren, die es totalitären Systemen erlaubten, das Individuum und die Vielfalt dem Kollektiv und einer biologistischen Logik zu unterwerfen. Paradoxerweise stellte so gerade die Orientierung am Leben (etwa des Volkskörpers) den „Tod“ ins Zentrum einer totalitären Ideologie. Indem das biologische (Über-)Leben der eigenen Gruppe oder Menschheitsgattung über das Überleben des politischen Gemeinwesens gestellt wird, schafft die Politik sich im Grunde ab.

In diesem Kontext steht auch Arendts berühmtes Diktum: „Eine Welt, die Platz für Öffentlichkeit haben soll, kann nicht nur für eine Generation errichtet oder nur für die Lebenden gepflanzt sein; sie muss die Lebensspanne sterblicher Menschen übersteigen. Ohne dies Übersteigen in eine mögliche irdische Unsterblichkeit kann es im Ernst weder Politik noch eine gemeinsame Welt noch eine Öffentlichkeit geben.“ (8) In einer Kontinuität politischen Handelns also kommen die Generationen zusammen: „Die Welt haben wir nicht nur gemeinsam mit denen, die mit uns leben, sondern auch mit denen, die vor uns waren, und denen, die nach uns kommen werden. Aber nur in dem Maße, in dem sie in der Öffentlichkeit erscheint, kann eine solche Welt das Kommen und Gehen der Generationen in ihr überdauern.“ (9) Es geht Arendt gerade also um die überzeitliche Geltung des Politischen. Erst im Horizont dauerhaften politischen Handelns bekommt das „Kommen und Gehen der Generationen“ seinen Ort. Die Nachwelt fungiert bei Arendt darum gerade nicht als Inhaber und Empfänger eigener Rechte.

Übertragen auf die drängende klimapolitische Lage der Jetztzeit heißt das: Zwar gilt es, die Nachwelt im politischen Handeln mitzudenken. Insofern weist das Urteil des Bundesverfassungsgerichtes auch in die richtige Richtung. Die Klimapolitik aber können und sollten wir im politischen Reden und Handeln am Hier und Jetzt orientieren. Um Mehrheiten für mutige Klimapolitik zu gewinnen, müssen wir die Dringlichkeit des Augenblicks begreifen. Statt einer recht abstrakten Motivationslage brauchen wir konkrete, hedonistischere Motive.

Echt jetzt? Ist das hedonistisch-materialistische Milieu nicht schuld daran, dass die Klimapolitik zu zaghaft ist, weil es sich mehr für SUVs, Urlaube in fernen Ländern und Spaß im Hier und Jetzt interessiert?

Die Vorbehalte gegen den Hedonismus sind alt. So berichten die hellenistischen Schriften des Athenaios vom griechischen Stadtstaat Sybaris (im heutigen Süditalien/Kalabrien), einer reichen selbstverwalteten Stadt mit üppigem Umland, eigener Währung und zu seinen Hochzeiten womöglich größer und wohlhabender als Athen. Die oft sagenhafte Überlieferung will, dass der Wein durch Rohre bis in die Häuser geleitet wurde, die umfangreichen Festivitäten oft lange im Vorhinein geplant wurden und selbst die Handwerker leise sein mussten, um die öffentliche Ruhe nicht zu stören (10). Schon in der griechischen Komödiendichtung regte Sybaris so zu Schlaraffenland-artigen Phantasien an.

Den Untergang der Stadt haben antike Geschichtsschreiber, dem beliebten Motiv der Tryphe folgend, der Verweichlichung und Zügellosigkeit seiner Bewohner zugeschrieben. In Wahrheit freilich wurde Sybaris von einer benachbarten Kolonie militärisch vernichtet, seine Bewohner vertrieben und später von einer durch Athen kontrollierten Kolonie ersetzt. Der sog. sybarische Hedonismus aber gilt bis heute als „Urbild üppiger Dekadenz“: „Wie die Lasterstätten Sodom und Gomorrha durch göttliches Strafgericht im Schwefelbrand, wie das von verderbtem Luxus beherrschte Pompeji in vulkanischem Aschenregen, so wurde auch das genusssüchtige Sybaris vom Erdboden getilgt.“ (11) Bis heute hält sich so der Topos vom Untergang einer lasterhaften Stadt. Dabei scheint es mir durchaus interessant, worauf der sybarische Reichtum unter anderem beruhte: auf der Bereitschaft nämlich, Zugewanderten das Bürgerrecht zu verleihen (12).

Nicht nur in der westlichen Tradition wurde eine genussorientierte Politik oft als Angriff auf die Überlebensfähigkeit einer Zivilisation verstanden. So waren Ansätze hedonistischen Denkens in der altindischen Tradition schlichtweg häretisch. Das wenige, was uns heute vom indischen Hedonismus überliefert wird, zeigt, warum dieser als Angriff auf das vedische Weltbild verstanden wurde:

„While life is yours, live joyously

None can escape Death’s searching eye

When once this frame of ours they burn

How shall it ever again return?“ (13)

Diese Argumentation des Cārvāka nimmt eine Position vorweg, die im Westen vor allem mit dem Namen Epikurs verbunden ist. Die epikureische Schule vertrat im Wesentlichen die Ansicht, dass der Tod nicht zu fürchten sei und das höchste Gut in der Vermeidung von Schmerz und Leid und der Erlangung seelischer Ruhe liege. Die spätere Tradition hat aus Epikur und seinem Denken, wieder und wieder, ein Zerrbild gemacht: als die verderblichen Thesen eines unzüchtigen, gottlosen Säufers. Dem Christentum galt seine Lehre dann ohnehin als verwerflich.

Eine wichtige Quelle für unser Verständnis Epikurs sind die antiken Schriften Plutarchs. So schreibt Plutarch diesem einen Lehrsatz zu, den er als Empfehlung, sich aus der Politik herauszuhalten, interpretiert hat: „Lebe im Verborgenen!“ (14) Ein anderer Lehrsatz, der Epikur zugeschrieben wird, lautet gar: „Befreien muss man sich aus dem Gefängnis der Alltagsgeschäfte und der Politik.“ (15) Plutarch hingegen vertrat die Ansicht, dass ein gutes Leben nur zu erlangen sei, wenn man sich ins Licht der Öffentlichkeit begebe und politisch aktiv sei (16).

Erstaunlicherweise aber macht Plutarch dem Hedonismus das Zugeständnis, dass die Orientierung an Lust und der Abwesenheit von Schmerz richtig sei. Wie schon Aristoteles betrachtet Plutarch die Beteiligung am öffentlichen, politischen Leben aber als wesentlich für ein gutes, insofern auch lustvolles Leben. Für einen Rückzug aus dem Weltlichen lässt Plutarch folglich nur dunkle, ja üble Motive gelten. (17) Ob Epikur wirklich so antipolitisch eingestellt war, wie uns die lückenhafte Überlieferung wissen lässt, ist nicht mit Bestimmtheit sagen. Fast sämtliche Schriften Epikurs sind verloren. Selbst manche seiner Gegner jedenfalls gestanden offenkundig zu, dass Politik und Hedonismus einander nicht ausschließen. Und zumindest das Epikur zugeschriebene Rechtsverständnis mutet laut Benjamin Berend erstaunlich modern an: „Grundsätzlich ist das Recht für alle gleich, denn es bedeutet stets in der auf Gegenseitigkeit beruhenden Gemeinschaft etwas Nutzbringendes.“ (18) Ganz so unpolitisch kann Epikurs Hedonismus also nicht gewesen sein …

Die vielfachen Schmähreden gegen den Hedonismus lasten bis heute schwer auf seinen Schultern. Dabei wäre ein hedonistisches Politikverständnis heute dringend von Nöten und die Klimapolitik gehört hierbei zu einem der wichtigsten Felder, wo dieses weitestgehend fehlt. Die polemische Konfrontation verläuft heute nämlich vorwiegend entlang von Gegensätzen wie Verzicht vs. Verschwendung oder Vernunft vs. Unvernunft (19). Und die Argumentation des Bundesverfassungsgerichtes schließt sich dieser Logik zumindest teilweise an. Der fatale Eindruck, der dabei m.E. entsteht, ist aber, dass wir heute verzichten müssen, damit der Planet in Zukunft noch demokratietauglich und bewohnbar ist.

Der verengte Blick auf zukünftige Generationen, deren Rechten und der Idee einer „Generationengerechtigkeit“ birgt außerdem Gefahren. So merkt Benjamin Möckel in einem Beitrag der Bundeszentrale für politische Bildung an: „Als bloß erwarteter Generationszusammenhang bildet sie [gemeint ist: die Rede von zukünftigen Generationen] eine perfekte Projektionsfläche für externe Generationszuschreibungen, die nicht durch real existierende Generationsangehörige gestört werden können. Darüber hinaus können zukünftige Generationen – entgegen jeder Evidenz – als sozial, politisch und kulturell homogene Gruppe imaginiert werden, die jenseits der politischen Kontroversen der Gegenwart stehen. Politische Konflikte können so in vermeintliche anthropologische Konstanten, in vermeintlich natürliche Bedürfnisse und Interessen verwandelt werden. Beides macht die Rede von zukünftigen Generationen für den politischen Diskurs so attraktiv: Sie fungiert als ,leerer Signifikant‘, der mit unterschiedlichsten politischen Zielen und Bedeutungen aufgeladen werden kann.“ (20)

Eine hedonistische Klimapolitik hat gegenüber dem Verweis auf die Projektionsfläche zukünftiger Generationen einen entscheidenden Vorteil: Sie holt den gegebenen Ort und die gegebene Zeit zurück ins Zentrum politischer Argumentation – und das ist bitter nötig. Die klimapolitisch immer wieder vollzogene Verschiebung der Aufmerksamkeit auf die Zukunft hat nämlich den fatalen Effekt, von gegenwärtigen Auswirkungen des Klimawandels abzulenken und damit die größten heutigen Verlierer des Klimawandels auszublenden: Menschen in Afghanistan, Pakistan, Haiti, Honduras, Somalia, Indonesien und der Sahel-Zone etwa (21). Dort wirkt sich der Klimawandel schon heute drastischer und gefährlicher aus, dort wird er auch in Zukunft deutlich mehr Menschen aus ihren Heimaten vertreiben und töten. Hedonistische Klimapolitik stellt darum die Rechte heutiger Generationen in den Mittelpunkt politischen Handelns: nicht zuletzt als eine Frage der Menschenwürde.

Es gibt noch einen weiteren Punkt, der für eine hedonistisch motivierte Klimapolitik spricht: Sie appelliert nämlich nicht an moralische Empörung und einen wissenschaftsorientierten Weltbezug, sondern erinnert uns an den Zusammenhang von guter Politik und gutem Leben. Hedonistische Klimapolitik ist darum verbunden mit einem Wandel an Aufmerksamkeit und der Mobilisierung einer anderen Art von Affekten. Sowohl die heiße Wut derer, die die Realität des Klimawandels leugnen, als auch die kalte Wut derer, welche die Leugnung des Klimawandels erzürnt, führen zu einer Konfrontationsstellung, in welcher aus dem Blickwinkel gerät, was es heißt, in einer Welt zu leben, die über 1 Grad wärmer ist als zu vorindustriellen Zeiten. Sind Menschen hingegen persönlich betroffen, dann rückt ihre genuine Erfahrung und der Angriff auf ein (halbwegs) gutes Leben in den Mittelpunkt der Debatte. Ich will dazu beispielhaft aus einem Kommentar zitieren, den ein Nutzer vor wenigen Tagen unter einem Youtube-Video hinterlassen hat:

„Ich hatte mir bis vor Kurzem ehrlich gesagt keine großen Sorgen über den Klimawandel gemacht und war auch nicht sehr gut informiert. Aber: Die letzten vier Jahre in meiner Region in Brasilien waren absurd. Das Klima begann sich in unserer kleinen und bevölkerungsreichen Region schnell und spürbar zu verändern. Sehr lange Trockenperioden (6 von 8 Monaten ohne richtigen Regen), viele Hitzewellen, einige unerträglich. Kalte Perioden wurden selten, kurz, unvorhersehbar, es regnet manchmal, aber HEFTIG und schnell. Jeder bemerkt die Veränderung.“ (22) Andere Nutzer:innen antworteten mit eigenen Erfahrungsberichten: „Ich bin auch Brasilianer und begann mir im Jahr 2023 Sorgen über den Klimawandel zu machen. Ich lebe in der Stadt São Paulo und es gab keinen einzigen Tag mit einer Temperatur unter 10 °C. Die Anzahl der Tage mit Hitzewellen war absurd, ich habe noch nie einen Frühling erlebt, der so heiß war, dass Menschen starben. Und den Winter haben wir komplett ausgelassen, der August sollte der kühlste Monat des Jahres sein, aber Mitte August betrug die Nachttemperatur 28 °C. Die Regenfälle und Stürme werden jedes Mal stärker, der Strom fällt aus, das Klima ist verrückt.“ (23)

In diesen Beiträgen wird beispielhaft deutlich, was Klimawandel im Alltagsleben von Menschen bedeutet. Dass er ihnen die umfangreiche Abhängigkeit von einem stabilen Klima- und Ökosystem ganz hautnah aufzeigt, ohne den Umweg über Klimamodelle, Prognosen und Horrorszenarien gehen zu müssen. Dass sie ihn spüren. Und dass immer mehr Menschen begonnen haben, einander von ihren Erfahrungen zu berichten und aufzuwachen. Der jetzige Zustand des Klimas ist der politische Grund zu handeln und der jetzige Mangel, die jetzigen Formen von Unlust sind es, die politisches Handeln begründen. Indem wir den heutigen Mangel adressieren, wird deutlich, warum hedonistische Klimapolitik ihre Anliegen gerade nicht auf die lange Bank schiebt, weil Dringlichkeit aus Lust- und Unlustempfindungen erwächst und nicht aus prognostizierten Zukünften.

Klar ist: Ohne wissenschaftliche Forschung und technologische Innovationen werden wir den Klimawandel nicht in den Griff bekommen. Aber die Übersetzung wissenschaftlicher Einsichten in politische Argumente gehört nicht zur Kernaufgabe von Wissenschaftler:innen. Die stark von der Logik der Wissenschaften kommende Kommunikationsform erreicht darum nur Teile der Bevölkerung, weil sie vor allem an Verstand, Vernunft und Objektivität appelliert und auf ein akademisch sozialisiertes Gegenüber setzt. Wo dieses fehlt, scheint man mit seiner Überzeugungsarbeit auf Granit zu stoßen. Der Weg von der Klimawissenschaft in die Klimapolitik führt aber nicht alleine über Prognosen und Fakten, sondern vor allem über spürbare negative Auswirkungen heute. Derer gibt es leider schon genug und die betroffenen Menschen sprechen und schreiben darüber. Wir müssen nur bereit sein zuzuhören.

Der Begriff der Generationengerechtigkeit sollte darum nicht an zukünftige Generationen delegiert werden, sondern an die heutigen Generationen. Wenn die jüngere Generation den Klimaprotest mobilisiert, tut sie dies nicht aus Selbstlosigkeit oder im Dienste der Zukunft, sondern im eigenen Sinne. Auch stehen nicht abstrakte Rechte der Natur im Mittelpunkt ihrer Empörung, sondern ein gewachsenes Bewusstsein für die Dringlichkeit zu handeln.

Ich könnte noch viele gute Argumente anführen, aber ehrlich gesagt habe ich dazu gerade keine Lust. Am Ende werden wir den Planeten vor einer Erwärmung um 3-4 Grad Celsius nur bewahren, wenn wir uns daran erinnern, warum wir Lust haben zu leben. Wenn wir merken, dass wir unsere Menschlichkeit im Kampf um die letzten bewohnbaren Flecken auf Erden verlieren würden. Wenn wir uns klar machen, dass Demokratien den Stresstest einer Klimakatastrophe nicht überleben werden. Dass uns dann sehr wohl ökologisch bedingte Diktaturen oder der vollständige Zerfall politischer Ordnungen drohen werden. Wenn wir das kalkulierende Abwägen und das moralisierende Besserwissen hinter uns lassen und dafür votieren, das Richtige zu tun und das Falsche zu lassen. Weitsicht hat uns geholfen, das Problem zu erkennen. Aber sie hilft uns nur bedingt, handlungsfähig zu werden. Was wir brauchen ist entschiedene Ungeduld – noch so ein hedonistischer Affekt. Schuldig sind wir diese Entschiedenheit nicht einer projizierten Zukunft, sondern der Gegenwart. Schuldig sind wir das den Menschen, die schon heute unter dem Klimawandel leiden. Schuldig sind wir es – nicht zuletzt – uns selbst.

Anmerkungen

(1) vgl. die Leitsätze zum Beschluss des Ersten Senats (24. März 2021), Link: https://www.bundesverfassungsgericht.de/SharedDocs/Entscheidungen/DE/2021/03/rs20210324_1bvr265618.html

(2) vgl. Wefing 2021: „Wohl zum ersten Mal so deutlich mobilisiert das Gericht die Zukunft verfassungsrechtlich für die Debatten der Gegenwart. Das aufregend funkelnde Stichwort dafür heißt jetzt: intertemporale Freiheitssicherung. (…) Um diese Entscheidung möglich zu machen, haben die Richterinnen und Richter einige ziemlich kreative Konstruktionen genutzt. (…) Tatsächlich sind die konkreten, ganz praktischen Folgen des Urteils für die Bundesregierung einstweilen ziemlich überschaubar.“

(3) Vgl. Bernd Ulrichs Kommentar in der ZEIT:„Freiheit ist nun nicht mehr nur etwas, das man lebt und gegen den Staat geltend machen kann, Freiheit ist nun auch etwas, das man materiell und physisch verbrauchen kann. Und nicht darf.“ (Ulrich, 2001)

(4) Vgl. hierzu etwa: „Arendts Ergänzung des Nachweltbegriffs kann insofern als ein Intertemporalitätstheorem gedeutet werden, wodurch sie markiert, dass die Handlungen der gegenwärtigen Mitwelt immer auch verengende Wirkungen auf die über sie hinausgehende Zukunft besitzen und dadurch gleichsam zur Mitwelt der Zukunft avancieren.“ (Klein: S. 77)

(5) vgl. Thukydides 2, 43

(6) vgl. Arendt (1994), S. 191

(7) ebd., S. 313

(8) ebd., S. 54

(9) ebd.

(10) „Außerdem seien sie die ersten gewesen, die Gesetze zum Lärmschutz erließen. Die Sybariten duldeten keine lärmintensiven Handwerke wie Schmiede und Zimmerer in der Stadt. Um den Schlaf der Anwohner zu schützen, durften nicht einmal Hähne gehalten werden.“ (Wikipedia: Sybaris)

(11) vgl. SPIEGEL 3/1969

(12) So berichtet es der antike Geschichtsschreiber Diodor (vgl. Wikipedia: Sybaris).

(13) vgl. Moen (2015)

(14) vgl. Feldmeier (2001), S.51

(15) Einen gesicherten Nachweis des vielfach Epikur zugeschriebenen Lehrsatzes konnte ich bislang nicht finden.

(16) “Gegen die konsequente Individualisierung des epikureischen Hedonismus stellt also Plutarch die These auf, dass gelingendes Leben nur dort möglich ist, wo sich der Mensch als ein elementar auf andere bezogenes Wesen versteht.” (Feldmeier, S. 84) So betont Plutarch, “dass die Person sich allererst in dem durch das gegenseitige Wahrnehmen ermöglichten Bezug der Menschen untereinander konstituiert, folglich der Bezug auf die anderen nicht in das individuelle Belieben gestellt werden darf” (ebd., S. 90). Dies gelingt Plutarch dadurch, dass er etwa die delphische Selbsterkenntnis als “gemeinsame[n] und wechselseitige[n] Erkenntnisprozeß” versteht (ebd.) und die Betätigung in der Gemeinschaft als Form der Lebensbejahung darstellt (ebd, S. 92)

(17) „Solche Lebensziele brauchen Dunkelheit, brauchen Nacht, für sie ist Vergessen und Unkenntnis bestimmt.“ (Feldmeier, S. 55)

(18) vgl. Berend, S. 70

(19) Ein Gegenbeispiel liefert m.E. eine Debatte, welche im Mai 2023 bei Telepolis ausgetragen wurde (Friedrich, 2023; Blume, 2023). Zwar polarisiert auch dort die Verzicht-Frage die Diskussion, allerdings sind interessante Zwischentöne zu hören, die zeigen, dass die eigentliche Debatte eher darum gehen sollten, welchen Verzicht uns der Klimawandel selbst noch aufnötigen wird. Hier deutet sich als bereits an, dass hedonistische Motive für und nicht gegen einen engagierten Klimaschutz sprechen.

(20) vgl. Möckel (2020)

(21) vgl. etwa einen Bericht des Standard (2022) und des International Rescue Committee (2022)

(22) Der aus dem Englischen übersetzte und inhaltlich aus Verständnisgründen leicht angepasste Kommentar findet sich unter dem Beitrag „I wasn´t worried about climate change. Now I am.“, Original-Text: „I was not very concerned about climate change (and not very informed either), but the last 4 years in my region in Brazil have been absurd. The climate, for us, in our small and populated region, started to change first, rapidly, noticeably. Very long dry periods (6/8 months without proper rain), many heat waves, some unbearable. Cold periods became sparce, short, unpredictable, rain comes sometimes but comes HEAVY and fast. Everyone noticed, the change.“ Link: https://www.youtube.com/watch?v=4S9sDyooxf4

(23) Auch dieser Kommentar fand sich unter dem eben genannten Video. Original-Text: „I also am Brazilian and I too began to worry about climate change this year of 2023. I live in Sao Paulo city and there wasn’t a single day with a temperature lower than 10 °C. The number of days with heat waves was absurd, I’ve never had seen a spring so hot that people were dying. And we entirely skipped winter, august should be the coolest month of the year but in middle of august the temperature at night was 28 °C. The rains and storms are each time stronger, power goes out, the climate is crazy.“

Verwendete Literatur

Hannah Arendt: „Vita activa oder Vom tätigen Leben“, 8. Auflage, Piper (1994).

Benjamin Berend: „Aufgeklärter Hedonismus. Zur Modernität einer antiken Lebensform“ (2021), Link: https://www.researchgate.net/publication/349598801_Aufgeklarter_Hedonismus_Zur_Modernitat_einer_antiken_Lebensform

Jutta Blume: „Hedonismus im Klimawandel: Warum wir uns auf Verzicht einstellen sollten“, Telepolis, 28. Mai 2023, Link: https://www.telepolis.de/features/Hedonismus-im-Klimawandel-Warum-wir-uns-auf-Verzicht-einstellen-sollten-9067795.html?seite=all

Felix Ekardt: „Erst mehr Klimaschutz ermöglicht Freiheit“, DIE ZEIT, 20. Oktober 2023, Link: https://www.zeit.de/wirtschaft/2023-10/energiewende-klimawandel-freiheit-oel-klimaklage-selbstverwirklichung

Feldmeier et. al.: „Plutarch: Ist ,Leben im Verborgenen‘ eine gute Lebensregel?“, Wissenschaftliche Buchgesellschaft (2001)

Andreas Folkers: „Politik des Lebens jenseits seiner selbst: Für eine ökologische Lebenssoziologie mit Deleuze und Guattari“, Soziale Welt, 68. Jahrg., H. 4 (2017), 365-384

Jörg Phil Friedrich: „Leben im Klimawandel: Die Zukunft muss nicht trostlos und ohne Freude sein“, Telepolis, 20. Mai 2023, Link: https://www.telepolis.de/features/Leben-im-Klimawandel-Die-Zukunft-muss-nicht-trostlos-und-ohne-Freude-sein-9060225.html?seite=all

Moritz Hild: „Das (vermeintliche) Ungenügen des Hedonismus“, Zeitschrift für Ethik und Moralphilosophie, Volume 1, S. 75-89, 2018.

International Rescue Committee: „5 Länder, die besonders stark vom Klimawandel betroffen sind“ (22.9.2022), Link: https://www.rescue.org/de/artikel/5-laender-die-besonders-stark-vom-klimawandel-betroffen-sind

Jens Kersten: „Natur als Rechtssubjekt“, Bundeszentrale für politische Bildung, 6.3. 2020, Link: https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/305893/natur-als-rechtssubjekt/

Benjamin Möckel: „Zukünftige Generationen Geschichte einer politischen Pathosformel“, Bundeszentrale für politsiche Bildung, 18.12.2020, Link: https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/generationen-2020/324496/zukuenftige-generationen/

Ole Martin Moen: „Hedonism Before Bentham“, Journal of Bentham Studies, Vol. 17 (2015)

Der Standard: „Diese fünf Länder sind am stärksten vom Klimawandel betroffen“ (7. 10. 2022), Link: https://www.derstandard.de/story/2000139731674/diese-fuenf-laender-sind-am-staerksten-vom-klimawandel-betroffen

Thukydides: „Perikles‘ Rede für die Gefallenen“, in: Geschichte des Peloponnesischen Krieges (2, 35-46), Link: http://ohher.de/Geschichte/Thuk.2.35-46.htm

Heinrich Wefing: „Daran kommt niemand mehr vorbei“, ZEIT online, 29. April 2021, Link: https://www.zeit.de/politik/deutschland/2021-04/bundesverfassungsgericht-klimaschutzgesetz-justiz-urteil-klimaklage-freiheitsrechte-einschraenkung

Wikipedia-Eintrag „Sybaris“, https://de.wikipedia.org/wiki/Sybaris

Bildnachweis: Silent Climate Parade 2014“ von ekvidi is lizensiert unter CC BY-NC 2.0.

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