Schreiben: getrennt oder zusammen?

Rechtschreibung gehört nicht zu den reizvollsten Aspekten der deutschen Sprache. Selbst die Bandbreite erlaubter Varianten der Orthographie wird da noch vorgegeben. So regeln die sog. Kann-Bestimmungen etwa Fälle, in denen mehr als eine Schreibweise eines Wortes sprachlich korrekt ist. Zu den kuriosesten Kann-Bestimmungen der Orthographie gehört übrigens das Wort „Kannbestimmung“ selbst. Denn seit 2004 darf man sowohl „Kann-Bestimmung“ als auch „Kannbestimmung“ schreiben. Warum, sehen wir noch. Fraglos spielt die Rechtschreibung damit auf dem Niveau unfreiwilliger Selbstveralberung, wie es sonst nur das bürgerliche Gesetzbuch erreicht. Da heißt es etwa in § 1314 Abs. 2: „Eine Ehe kann ferner aufgehoben werden, wenn ein Ehegatte sich bei der Eheschließung im Zustand der Bewusstlosigkeit (…) befand.“

Man kann solche Regelwut lustig, lästig oder pedantisch finden. Oder man geht wie ein Logiker an die Sache ran. Gottlob Frege zum Beispiel. Auf ihn führt man das sog. Bedeutungsprinzip zurück, das für die Regelung eines zentralen Aspektes der Rechtschreibung Pate steht: die sog. Getrennt- oder Zusammenschreibung. Vereinfacht gesagt gilt: Wenn zwei Wörter zusammenkommen und sich der Sinn ihrer Zusammenkunft aus den Einzelbedeutungen ergibt, dann schreibt man sie getrennt (sog. Kompositionalität). Das könnte man das Scheidungsrecht der deutschen Sprache nennen. Aber es gibt auch so etwas wie ein Eherecht derselben: Bilden zwei Wörter eine neue Bedeutungseinheit, werden sie zusammengeschrieben (<– so wie bei diesem Wort hier). In diesem Falle ist es zu einer sog. Idiotomatisierung gekommen, wie etwa bei dem schönen Verb blaumachen. Dessen Bedeutung lässt sich nämlich nicht mehr einfach auf seine Bestandteile zurückführen. Oder haben Sie schon einmal einen Eimer Farbe gebraucht, wenn sie aus zweifelhaften Gründen nicht bei der Arbeit erschienen sind?

Wie nicht anders zu erwarten, ist die mit Freges Namen verbundene Überlegung nicht ohne Kritik geblieben, denn Sprache befindet sich nicht nur im Fluss, sondern das auch noch ständig. Ist es wirklich vernünftig anzunehmen, Bedeutung sei an einzelne Wörter gebunden und lasse sich entsprechend aus Einzelbedeutungen (+ syntaktischen Regeln) aufsummieren? Kurioserweise ist man sich heute nicht einmal mehr sicher, ob Frege selbst das nach ihm benannte Prinzip so vertreten hat. Gerade Beispiele wie das Wort „blaumachen“ zeigen, dass deren Bedeutung nicht streng aus kleinsten Bedeutungseinheiten komponiert werden kann. Schlimmer noch, es gibt Fälle, in denen unentscheidbar wird, ob die Zusammenkunft zweier Wörter nun eine eigene Bedeutung gefunden hat oder in ihre Bestandteile zergliederbar bleibt. Was uns zurück zum anfangs erwähnten Beispiel der Kann-Bestimmung führt. Ist die Kann-Bestimmung das summierte Ergebnis von Bestimmen und Können? Oder ist die Kannbestimmung mehr als die Summe ihrer Teile und hat damit das Recht erworben als eigenständiges Idiom zu gelten? Man sieht, selbst die Orthographen wussten hier keine klare Antwort zu geben, weshalb sie beide Schreibweisen zuließen.

Wie so oft im Regelwesen ergeben sich aus den zunächst abwegig scheinenden Zweifelsfällen Fragen, die das Reich der Rechtschreibung weit überschreiten: Wenn nicht aus Einzelbedeutungen, wie lernen Menschen dann das Sprechen und Schreiben? Und weist uns das Problem der Getrennt- und Zusammenschreibung nicht gar auf das verworrene Verhältnis der Schreibenden zur Sprache hin, deren vermeintliche Beherrschung gerade da zum lebenslangen Thema, ja Antagonisten wird, wo man es mit dem Schreiben ernst meint? Was also heißt das wirklich: getrennt und zusammen zu schreiben? Und muss oder kann man sich da überhaupt entscheiden?

Wie wohl in keinem Jahrhundert zuvor hat die Philosophie des 20. Jahrhunderts versucht zu belegen, dass die Sprache nicht einfach ein pflichtbewusster Abklatsch unseres Denkens ist, sondern einer Eigenlogik folgt, ja, dass die Sprache unser Denken und den Zugang zur Welt bisweilen tiefsinnig und weitreichend regelt. Berühmt auf den Punkt gebracht hat diese Grundeinsicht sicher Ludwig Wittgenstein mit dem Diktum: „Die Grenzen meiner Sprache bedeuten die Grenzen meiner Welt.“ Weniger bekannt dürfte sein, dass er damit in einer älteren sprachskeptischen Tradition steht, die man etwa mit dem Namen Fritz Mauthners verbinden kann. Mauthner machte gar den Sprachschreck (ein schönes Wort!), also das Erschrecken über die Sprache, ihre Macht und ihre Ohnmacht, zu seiner Lebensaufgabe. Im Zuge dieses epochalen Erschreckens stellt sich darum die Frage, ob die Sprache und ihre Normen nicht, hinter unserm Rücken, u. a. unser Verständnis von Zusammengehörigkeit und Individualität mitprägen.

Eine unbewusste Vorstrukturiertheit durch die Sprache scheint so zu bestimmen, wo Ideen, Wörter, Sätze, Erfahrungen zu neuen Bedeutungen zusammenfließen und fortan „für sich“ stehen dürfen. Diese strukturellen Vorprägungen spielen darum auch bei der Frage eine Rolle, was überhaupt als Autorenschaft gelten und ggf. auf dem Buchmarkt idiomatisch funktionieren kann. Von so einer Magie der Sprache war auch der Anthropologe Claude Lévi-Strauss überzeugt. Dabei führte er eine Unterscheidung ein, die bis heute noch zu wenig Beachtung gefunden hat. Auf der einen Seite haben wir, so Lévi-Strauss, ein Unterbewusstsein, in welchem persönliche Erinnerungen abgelegt und abgerufen werden können. Auf der anderen Seite und radikal getrennt gebe es da ein Unbewusstes, das komplett leer und damit eben auch unpersönlich sei.

Lesen wir einmal im Kontext, wie er das meint:

>> Dagegen ist das Unbewußte immer leer; genauer gesagt, es ist den Bildern ebenso fremd wie der Magen den Nahrungsmitteln, die durch ihn hindurchgehen. Als Organ einer spezifischen Funktion beschränkt es sich darauf, unartikulierten Elementen, die von außen kommen – wie Antrieben, Emotionen, Vorstellungen, Erinnerungen – Strukturgesetze aufzuerlegen, die seine Realität erschöpfen. Man könnte also sagen, daß das Unterbewußtsein das individuelle Lexikon ist, in dem jeder das Vokabular seiner persönlichen Geschichte sammelt, daß aber dieses Vokabular nur insoweit Bedeutung für uns selbst und für die anderen gewinnt, als das Unbewußte es gemäß seinen Gesetzen formt und eine Rede (discours) daraus macht. << (Lévi-Strauss, S. 223 f.)

Folgt man Lévi-Strauss, so speist sich unser Sprechen (und Schreiben) also aus zwei unterschiedlichen Typen des Unverfügbaren: dem individuellen, biographischen Unterbewussten und einem beinahe zeitlosen, unpersönlichen Unbewussten. Als Anthropologe interessiert er sich dafür, wie der Mensch diese beiden Aspekte in ganz unterschiedlichen Kultur- und Zeitkontexten zusammenband. Lévi-Strauss arbeitet zwischen so unterschiedlichen Kulturpraktiken wie dem Schamanentum und der Psychoanalyse die „Wirksamkeit“ der dabei verwendeten „Symbole“ als entscheidende Gemeinsamkeit heraus.

Nicht die konkreten, individuellen und ggf. auch erinnerbaren Episoden einer traumatischen Erfahrung rufen demnach beispielsweise ein psychisches Leiden hervor, sondern ein vom Unbewussten vorstrukturierter kollektiver Mythos. Die Heilung besteht dann darin, diese kollektive unbewusste Ebene zu erreichen und durchzuarbeiten; sei es durch magisch anmutende Formeln des Schamanen oder durch die Rede des Analysanden auf der Couch. Lévi-Strauss hierzu: „das Unbewusste hört auf, der unnennbare Zufluchtsort der individuellen Besonderheiten zu sein, der Aufenhaltsort einer einzigartigen Geschichte, die aus jedem von uns ein unersetzliches Wesen macht“ (223).

Man muss sich der radikalen Trennung nicht anschließen, die Lévi-Strauss zwischen Unbewusstem und Unterbewusstem gemacht hat. Vielmehr können wir heute eine lebendige wechselseitige Beeinflussung dieser Sphären annehmen. Die dadurch möglich werdende Dialektik zwischen persönlichen Erinnerungen und unpersönlichen Strukturen in unserem Sprechen und Schreiben ist dann gleichermaßen psychisch und sprachlich relevant – und das ist ein Modell, das dem heutigen Klischee vom Schreibprozess zuwiderläuft.

Wir betrachten Schreiben, in aller Regel, heute als ein einsames Geschäft. Man verbrämt das Schreiben darum oft zu einer exzentrischen Lebensform des Rückzugs. Der Schreibprozess selbst wird fast zu einem modernen Arkanum stilisiert; selbst da, wo das Ergebnis als gesellschaftspolitisch engagiert auftritt. Mit anderen Worten: Man schiebt beim Schreiben fast alles auf das Individuum. Auf der Strecke aber bleibt damit jenes strukturgebende Unbewusste, ohne dessen Mitwirken sich der kollektivierende Effekt von Literatur kaum erklären lässt. Denn sowohl auf Seiten der Schreibenden als auch auf Seiten der Lesenden spielt die kollektive Dimension natürlich eine prägende Rolle.

Die Vorstellung vom Schreiben als einem individuellen kreativen Prozess erweist sich so betrachtet als eine Schwundstufe dessen, was beim Schreiben eigentlich im verborgenen Zentrum steht: die Fähigkeit nämlich, die Schrift selbst zu „stellen“. Was heißt das? Es gehört mehr dazu, als das Biographische dokumentarisch oder fiktionalisiert in Erzählbares zu verwandeln, mehr auch, als die bekannten Erzählmotive dem Zeitgeist anzupassen. Ein so verstandenes Schreiben eignet sich bestenfalls als reformistische Restaurationspraxis.

Nein, mit Lévi-Strauss muss man annehmen, dass „die Schrift stellen“ bedeutet, an den Punkt zu gehen, wo die Sprache selbst als eine leere Struktur fassbar wird. Hier erst wird das mythische Plateau des Schreibens betretbar. Das Stellen der Schrift erfordert insofern einen tiefergehenden Prozess, bei dem die Schreibenden nicht bloß ihr Kern-Ich bloßlegen, sondern vielmehr in Berührung mit der Sprache und der Wirksamkeit der Symbole selbst kommen. Das Spiel der Strukturen, das sich einstellt, wenn diese Verbindung hergestellt wird, so brüchig sie auch sein mag, ist von anderer Art als das bloß kreative Neukombinieren von Bedeutungen.

Es ist insofern kein Zufall, dass gerade die Literatur des 20. Jahrhunderts sich immer wieder an der Sprache selbst gerieben hat, versucht hat, ihr Werkzeug selbst mit immer neuen, oft aberwitzigen Methoden zu bearbeiten. Was die Moderne ausmacht, ist gerade diese Form der Selbsthematisierung; Literatur insofern als praktische Sprachkritik. Erst von dieser Warte aus betrachtet erhält die ausgelutschte Formel vom „Tod des Autors“ ihre erschütternde Wirkung. Nicht Selbst-Werdung oder Individuation, sondern fast ihr blankes Gegenteil, Selbst-Verlust, ist das Thema desselben.

An diesem kritischen Punkt allerdings schlägt die Sache einen nicht minder modernen Haken: Solange wir an einer Vorstellung von Autorenschaft festhalten, die das (triumphierende oder scheiternde) Individuum in den Mittelpunkt stellt, drohen wir die Pointé zu verpassen. Das größte Klischee der Moderne, die Individualität, bedroht darum die Schriftstellerei, indem sie das Stellen der Schrift auf eigentümliche Befähigung und das Ausloten des Eigenen (sei es der eigenen Biographie, Zeit oder Kultur) reduziert. Wo das Klischee den Autor und die Autorin festzunageln droht, muss man das Unbewusste und seine kollektive Möglichkeitsform zurück in die Praxis holen.

Schreiben ist darum eigentlich immer: Schreiben mit anderen, Schreiben von anderen und Schreiben für andere. Vielleicht müssen wir die vielen Krisen, die das Schreiben heute zu erleben scheint, auch darauf zurückführen, dass dessen kollektive Unterströmung heute weitestgehend verdrängt ist. Und vielleicht ist es ein Zeichen der Wiederentdeckung, dass kollektive Schreibprozesse jüngst mehr Aufmerksamkeit und verlegerischen Raum bekommen (1) (2).

Mir scheint, wir haben vom Mythos des Schriftstellers das Beste verworfen und das Profanste behalten. Geblieben ist die weitestgehend isolierte Tätigkeit der Autor:in. Die auf Individualität geeichte Verwertungslogik kitzelt dabei nur noch grotestker hervor, was in unseren Köpfen und Mägen sowieso schon als allzeit bereite Erwartungshaltung lauert. Mir scheint, es gälte, die empfangsbereite und zu anderen ausgreifende, Gemeinschaft stiftende Seite des Schreibprozesses wieder mehr zu betonen. Vielleicht können wir auf diese Weise sogar etwas von dem alten Genie-Kult beim gemeinsamen Lesen und Schreiben wiederentdecken, nicht als Ausdruck heroischer Individualität, auch nicht im Gleichschritt tumber Kollektivität, sondern als eine Bereitschaft: sich auf das Gemeinsame einzulassen, auf das, was sonst alleine bleiben müsste. Der dem Schreiben innewohnende schöpferische Geist jedenfalls, der sog. genius, gehört uns allen. Und vielleicht braucht es auch ein gewisses Maß an Bewusstlosigkeit, damit eine Verbindung damit zustandekommen kann; mag das bürgerliche Gesetzbuch noch so oft insistieren, dass die dabei eingegangene Ehe ungültig ist.

Hinweise

(1) DLF-Beitrag: „Gemeinsam schreiben: Neue Solidarität auf dem Buchmarkt“ (Link)

(2) Daniel Ehrmann/Thomas Trauptmann (Hrsg.): „Kollektives Schreiben“ (im Open Access verfügbar als pdf: Link)

Verwendete Literatur

Claude Lévi-Strauss: „Die Wirksamkeit der Symbole“, in: Claude Lévi-Strauss/Hans Naumann: „Strukturale Anthropologie I“. Suhrkamp: Frankfurt am Main, 1. Auflage, 1977

Bildnachweis

Write Your Name, Ethiopia“ von Rod Waddington ist lizensiert unter CC BY-SA 2.0.

Hinterlasse einen Kommentar