Aller Dinge Anfang

Wenigstens seit Platon, so befand einst Hannah Arendt (1), habe sich die Philosophie an der menschlichen Sterblichkeit „entzündet“. Dieser dunkel anmutenden Perspektive stellte sie das In-die-Welt-geboren-Werden zur Seite: „Der Neubeginn, der mit jeder Geburt in die Welt kommt, kann sich in der Welt nur darum zur Geltung bringen, weil dem Neuankömmling die Fähigkeit zukommt, selbst einen neuen Anfang zu machen, d.h. zu handeln.“ (2) Das Handeln-Können kommt uns von Anfang an zu und das heißt vielleicht sogar: Aller Dinge Anfang ist leicht. Und so geht vom Anfang eine große philosophische Faszination aus, die schon das Kind ergreifen kann. Ich erinnere mich daran, als Neunjähriger in einem selbst gemalten, Biene-Maja-artigen Cartoon ein schwarz-gelb gestreiftes Ei mit einem Fragezeichen versehen zu haben. Der Anfang war für mich etwas Rätselhaftes gewesen und von daher erkläre ich mir auch mein Interesse für die Philosophie.

Ich meine, Hannah Arendt sei mit ihrer Bemerkung in einem Jahrhundert, das wie keines zuvor auf die existentielle und moralische Hinfälligkeit des Menschen gestoßen war, beherzt zurückgesprungen an einen Anfang, der lange vor Sokrates und seiner Philosophie als Hebammenkunst begonnen hat, an einen Anfang vor dem Anfang.

Der erste beglaubigte (Halb-)Satz der griechischsprachigen Philosophie stammt von Anaximander und die Frage nach dem Anfang, der archē, spielt bei ihm eine entscheidende Rolle. Das Interesse an Anaximander ist dabei wenigstens ein Doppeltes, denn viele Autor:innen sehen bei Anaximander nicht nur einen Anfang der Philosophie, sondern auch den Anfang naturalistischer Erklärungsversuche des Kosmos. Obwohl stark von mythischen Weltentstehungslehren (etwa Hesiods) beeinflusst, hat Anaximander einen eigenen Zugang zur Welt gesucht.

Das Bild, das Anaximander in seinem berühmtesten Fragment entwirft, ist das eines steten Wandels innerhalb der aus einem ungreiflichen Anfang geschaffenen Welt:

»Woraus die Dinge entstanden sind, darein müssen sie auch wieder vergehen nach dem Schicksal; denn sie müssen Buße und Strafe zahlen für die Schuld (sc. ihres Daseins) nach der Ordnung der Zeit.« (3)

Wir werden wohl nie sicher wissen, was genau Anaximander mit diesem Satz meinte. Aber schon die Elemente seiner Überlegung geben uns Einblick in ein Denken, das heute fremd und ungewohnt wirkt. Anaximander hat fraglos die Vorstellung einer natürlichen Gerechtigkeit für alles Seiende. Das Schicksal, gemäß dessen im Laufe der Zeit die Dinge kommen und gehen, scheint ein notwendiges zu sein. Und alles Seiende hängt bei Anaximander offenbar durch Beziehungen von wechselseitiger Schuld, Buße und Strafe zusammen. Nicht zuletzt deutet sich ein elementarer Zusammenhang zwischen dem Kommen und Gehen der Dinge selbst an. Woher sie kommen, dahin gehen sie auch zurück. Das Leben und seine Kreisläufe stehen wohl Pate für Anaximanders Weltbild. Und wir finden in dieser Abfolge von Geborenwerden und Sterben auch Hannah Arendts Gedanken vorgeformt, dass wir alles vom Ende und vom Anfang her zu verstehen suchen müssen.

Es gibt viele Lesarten dieses Satzes, viele Übersetzungsversuche (siehe Hinweis 4 für eine Alternative), der vordere Teil ist wahrscheinlich nur eine indirekte Wiedergabe Aristoteles‘, und weil uns der argumentative Kontext stets von anderen Philosophen vermittelt wird, aus Quellen, die vielleicht schon zur Zeit Platons verloren gegangen sind, bleibt Anaximander eine große Projektionsfläche. Deren Reiz scheint auch daran zu liegen, dass sein Fragment zugleich das erste überlieferte Fragment der griechischen Philosophie und ein Fragment mit Bezug zur Philosophie des Anfangs darstellt.

Gegen die Rätselhaftigkeit dieses Satzes anreden, mag naiv erscheinen, so naiv und jung, wie die Griechen damals, vor über 2600 Jahren, den ägyptischen Priestern erschienen sein müssen. Tatsächlich hatten die Ägypter für die Griechen nicht einmal einen richtigen Eigennamen, es waren einfach die, „die in den Sumpflöchern hocken“. Und in ihren Spott mischte sich im Laufe der Zeit auch Ablehnung: „die Griechen haben nur leere Reden, gut zum Imponieren, und ihre Philosophie ist bloß geschwätziger Lärm. Wir dagegen, wir gebrauchen nicht Wörter, sondern Laute voller Energie.“ (5) Es scheint, dass die Urteile über die Philosophie immer schon auch Urteile über ihren Sprachgebrauch waren. Wie oft begegnet die Philosophie heute noch dem Vorwurf der Geschwätzigkeit! Und wer möchte nicht stattdessen lieber „Laute voller Energie“ von sich geben?

Das Gefühl, nicht ernst zu nehmen und unreif zu sein, ist wohl prägend gewesen für das Selbstbild der frühen Griechen. Die Frage nach dem (eigenen) Anfang dürfte für die frühe griechische Philosophie auch darum so wichtig gewesen sein. So randständig, so unbedeutend war man, so klein auch und machtlos, dass die Suche nach dem Eigenen lebenswichtig wurde. Der Blick hin zum großen südlichen Reich am Nil muss für die Griechen von Ehrfurcht geprägt gewesen sein. Dort konnten die ägyptischen Priester noch gut zwei Generationen nach Anaximander, so berichtet Jan Assmann, ihrem Gast, dem herumreisenden und die Welt erschließenden Hekataios von Milet, mit Hilfe von 341 Statuen der aufeinander folgenden Oberpriester ihre 2500 bis 3000 Jahre alte Geschichte vorführen (6).

Dieses Aufwachsen im Schatten eines riesigen Reiches prägte denn das Denken der Griechen. Ich frage mich, wie viel von diesem Bewusstsein im heutigen westlichen Denken erhalten geblieben ist. Haben wir nicht eher den ägyptischen Blick auf die Welt angenommen? Und erscheinen nicht auch uns die Anfänge der griechischen Kultur wie die eines Kindes? (7)

Das Mittendrin-Stecken in etwas, so scheint mir, charakterisiert den Zeitgeist heute am Treffendsten. Mitten drin in technologischen Umwälzungen, mitten drin in einem kippenden Weltklima, mitten drin in der multipolaren Drift der weltweiten Machtverhältnisse. Dieses Mittendrin-Stecken lesen wir dieser Tage wieder gerne zu allerlei befürchteten Enden hin. Dabei drohen wir erneut zu vergessen, dass es auch zu einem Anfang hin zu lesen ist, an dem wir stehen könnten. Von einem solchen Anfang her, folgen wir Arendt, wäre jedenfalls (politisches) Handeln zu verstehen.

Der Satz des Anaximander zeigt uns die (geschaffene) Welt als in steter Transformation, als fortwährende Abfolge von Geborenwerden und Sterben. Die moderne Linearität der Zeit ist hier noch abwesend. Und auch die spätere Geschlossenheit des „klassischen“ griechischen Kosmos tritt bei Anaximander noch nicht zu Tage. Vielmehr spielt sich das Entstehen und Vergehen aller Dinge vor einem undurchdringlich tiefen Abgrund ab, aus dem alles nach gleichem Recht hervorgeht und wieder zurückfließt. Dieses Kommen und Gehen, diese steten Metamorphosen alles Weltlichen, lassen erkennen, warum Anaximander, vielleicht mehr noch als Heraklit, ein Philosoph des Flüssigen war.

Das göttliche Gesetz, welches das Kommen und Gehen der Dinge zu bestimmen scheint, ist bei Anaximander zugleich ein natürliches Gesetz. So bewahrt der Satz des Anaximander eine tiefe Lebenserfahrung der frühen, vor-klassischen Antike. Es ist die Erfahrung der sesshaft gewordenen Menschen, deren Leben sich in vielen Hochkulturen an den Spenden und Strafen des Nil, des Euphrat und des Tigris, orientierte.

Anaximanders Satz gewährt somit auch einen Einblick in das vorgriechische und nicht-griechische Denken. In Milet, Anaximanders Heimatstadt an der kleinasiatischen Westküste, flossen die Ideen wenigstens von Ägypten bis Babylon zusammen. Der Anfang, in den Anaximander verstrickt war, liegt insofern vor dem Anfang der griechischen Philosophie. Und auch aus dem vor-griechischen Kontext sind die aufsehenerregenden Thesen des Anaximander zu verstehen: dass das Leben aus dem Wasser und auch der Mensch aus dem Meer gekommen ist, dass die Lebewesen auseinander hervorgegangen sein müssen. Diese Metamorphosen des Lebens nehmen im Kern nicht nur Ideen der darwinsche Evolutionstheorie vorweg (wie Charles Darwin selbst bemerkte!), sie zeigen zugleich, dass Naturgeschichte immer auch Erzählung gewesen ist.

Einen Anfang machen, das möchte auch ich heute: mit diesem ersten Gang in einer ganzen Reihe philosophischer Spaziergänge. Wer keinen Beitrag mehr verpassen will, kann ab sofort auch unseren Newsletter abonnieren (siehe oben)! Ich hoffe, Dich, Euch, Sie auf dieser persönlichen Reise durch die Philosophiegeschichte mitnehmen zu können. Ich werde versuchen, den Kanon immer wieder links liegen zu lassen, und aus dem Augenwinkel, von den weniger stark kanonisierten Perspektiven aus über das Tradierte und das Verlorene nachzudenken, die eingefahrenen Lesarten mit den abgefahrenen zu verbinden, das Bekannte aus unerwarteten Winkeln zu betrachten und das Unbekannte besser zu verstehen. Diese persönliche Form des Philosophierens, die sich ein wenig auch dem Tagebuch annähern wird, dem interessierten Vorantasten, wird darum auch ein erzählerisches Philosophieren sein, nicht immer streng und ernst, aber doch, auch das. 😉 So hoffe ich, mit diesen kleinen philosophischen Journalen etwas beizutragen zu einer Art Poesie der Ideen.

Hinweise zum Weiterlesen (mit eigenen Anmerkungen):

  • Liste mit einigen überlieferten Fragmenten des Anaximander: https://www.gottwein.de/Grie/vorsokr/VSAnaximand01.php
  • Marco Rovelli: „Die Geburt der Wissenschaft.: Anaximander und sein Erbe“, Rowohlt 2019. Rovelli stellt uns Anaximander vor allem als Vater der naturwissenschaftlichen Methode vor. Es ist anzunehmen, dass er die traditionellen Aspekte in Anaximanders Denkens vernachlässigt und uns diesen zu gerne als revolutionären Vorläufer der heutigen Wissenschaften vorstellt. Wer über diese Einseitigkeit hinwegsehen kann, findet bei Rovelli aber eine spannende Beschwörung des Anfangs der Wissenschaften.
  • Andrew Gregory: „Anaximander. A Re-assessment“ (2016). Gregory zeigt uns Anaximander in seiner detaillierten Neubetrachtung vor allem als einen Kosmologen, der sich stark auf biologische Analogien bezieht. Anders als die spätere, aristotelische Tradition bis ins 19. Jahrhundert suggerierte, ist Anaximander nach heutigem Verständnis nicht als Materialist oder Physiker zu verstehen. Die frühe griechische Philosophie dachte sich den gesamten Kosmos vielmehr belebt vor. Selbst die Sterne wurden wohl mit Hilfe biologischer Analogien erklärt.
  • Martin Heidegger: „Der Satz des Anaximander“. Heideggers sehr eigenwillige Interpretation Anaximanders soll hier nicht unerwähnt bleiben. Heidegger kommt fraglos der Verdienst zu, Anaximander – wie vor ihm schon Nietzsche – aus dem aristotelischen Zugriff befreit zu haben. Dennoch, so merkt etwas Niels Christian Dührsen an, bleibt Heideggers Zugriff auf Anaximander der aristotelischen Tradition zu sehr verhaftet, wenn er in diesem bereits abstrakte Überlegungen über die ontologische Differenz vorzufinden meint.
  • Svenja Flaßpöhler/Florian Werner: „Zur Welt kommen“. Flaßpöhler und Werner nehmen die eigene Elternschaft in vielen kleinen Kapiteln zum Anlass, über das Zur-Welt-Kommen aus Sicht von Eltern zu philosophieren.

Verwendete Literatur:

(1) Hannah Arendt: „Vita activa oder Vom tätigen Leben“, Piper: 2013, S. 18

(2) ebd.

(3) Eine klassische Übersetzung nach Karl Vorländer: „Geschichte der Philosophie“ (1903) – Link: https://www.textlog.de/6301.html

(4) Eine neuere, wortgetreuere Übersetzung: „(1) Aus welchen [sc. Dingen] aber das Entstehen ist für die Seienden, in diese [sc. Dinge] werde [bzw. geschehe] auch ihr [d.h. der Seienden] Vergehen gemäß dem, was sein muss [bzw. fällig ist]. (2) Denn sie [sc. die Seienden] entrichten einander Strafe und Buße für ihre Ungerechtigkeit gemäß der Ordnung der Zeit“. (zitiert nach: Niels Christian Dührsen: „Anaximander“, In: Flashar/Bremer/Reichenauer: „Die Philosophie der Antike“. Band 1, Basel 2013, S. 288)

(5) Jan Assmann: „Weisheit und Mysterium. Das Bild der Griechen von Ägypten“, 1999, S. 77

(6) Wiedergegeben gemäß: „Jan Assmann über das Bild der Griechen von Ägypten: Einseitige Neugier“ (in: Berliner Zeitung, 30.9.2000) – Link: https://www.berliner-zeitung.de/jan-assmann-ueber-das-bild-der-griechen-von-aegypten-einseitige-neugier-li.7001

(7) So schrieb schon Gomperz vor 100 Jahren zu Anaximander: „So kindlich manche seiner tappenden und tastenden Versuche sind, so ehrfurchtgebietend steht er vor uns da als ein Bahnbrecher und Pfadfinder.“ (Theodor Gomperz: Griechische Denker, 1922, Bd. 1, S. 42)

Bildnachweis:

Titelbild: Theater von Milet. Verwendet gemäß: CC BY-SA 2.0, Quelle: https://de.wikipedia.org/wiki/Milet#/media/Datei:The_Theater_of_Miletus.jpg

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